Allein statt unter Menschen
Einzelgänger oder Partylöwe?
Stell dir vor, du musst zwischen zwei Extremen wählen, wie du den Rest deines Lebens verbringst:
- Ausschließlich allein, auch Telefonate, Online- und Briefkontakte sind tabu.
- Dauerhaft mit anderen: Familie, Freunde, Fremde. Nicht immerzu in Gesellschaft aller, aber allein bist du nie (Toilettenbesuch mal ausgenommen).
Wofür entscheidest du dich? Nimm dir einen Augenblick Zeit und denk darüber nach.
Schwierig? Stell dir das Ganze für ein Jahr oder ein halbes vor und lass persönliche Verpflichtungen außer Acht, das Ganze ist schließlich hypothetisch. Organisatorisches spielt keine Rolle, für Familie und Freunde ist deine Entscheidung in Ordnung. Nichts und niemand wird unter einer etwaigen Trennung leiden – ausgenommen du selbst.
Für die meisten von uns ist keine Alternative erstrebenswert, wir brauchen beides, sozialen Kontakt und Zeit für uns, allerdings in sehr unterschiedlichem Ausmaß. Dennoch ist einer der beiden Zustände in unserer Gesellschaft negativer konnotiert als der andere. Die meisten Befragten würden sich sehr wahrscheinlich für Möglichkeit Nr. 2 entscheiden. Warum ist das so?
In sich gekehrt oder nach außen gewandt?
Ein Großteil (70-80 %) aller Menschen in den westlichen Kulturen ist vom Charakter her extravertiert. Ihr Fokus ist vorrangig auf das Außen gerichtet, sie brauchen den Kontakt zu anderen, um sich gut und lebendig zu fühlen. Längeres Alleinsein fällt ihnen schwer, sie langweilen sich, werden trübsinnig. Im geselligen Zusammensein laden sie gegenseitig ihren inneren Akku auf. Im Allgemeinen sind sie kontaktfreudig, herzlich, redselig und begeisterungsfähig.
Introvertierte Menschen beschäftigen sich hauptsächlich mit ihrem inneren Erleben. Sie beziehen ihre Kraft aus der Quelle des Alleinseins und häufig „einsamen“ Interessen. Sie benötigen viel Zeit für sich: ALLEIN UND ZUFRIEDEN – GEHT DAS? Wenn sie nicht gerade über etwas sprechen, für das sie sich begeistern, neigen sie zur Schweigsamkeit. In Teams wirken sie nach außen hin oft passiv. Ein Eindruck, der täuscht, da sie sehr in ihre Tätigkeit eintauchen können und das über lange Zeitspannen, es jedoch vorziehen, allein zu arbeiten.
Galt intro- oder extravertiertes Verhalten lange Zeit als anerzogen, geht die Forschung heute davon aus, dass die Persönlichkeit eines Menschen zu mindestens 50 Prozent von den Genen abhängt. Der Grad der Extraversion ist einer von fünf Faktoren, nach denen Psychologen anhand des Big-5-Modells den Charakter einer Person einschätzen. In Reinform kommen Intro- und Extraversion eher selten vor. Halten sich extra- und introvertierte Anteile die Waage, spricht man oft auch von einem ambivertierten Charakter. Das liegt daran, dass intro- oder extravertiertes Verhalten oft situationsgebunden auftritt. Jemand kann im Beruf ein zurückhaltendes Wesen an den Tag legen, während er im Kreis von Freunden und Bekannten gern im Mittelpunkt steht. Bei den meisten ist jedoch eine leichte bis sehr deutliche Neigung zur einen oder anderen Seite vorhanden.
Stärken Introvertierter
Introvertierte können lange Zeit konzentriert an einer Aufgabe arbeiten, ohne eine Pause zu benötigen, sofern ihr Bedürfnis nach sequentiellem Arbeiten erfüllt ist. Sie gehen bei dem, was sie tun, in die Tiefe. Multitasking dagegen liegt ihnen nicht und setzt sie unter Stress – sie sind gut darin, eine Aufgabe nach der anderen abzuhaken, geordnet nach Priorität. Manchmal vertiefen sie sich so sehr in ihre Tätigkeit, dass ihr Verstand unbewusst alles andere ausblendet und selbst körperliche Bedürfnisse wie Hunger oder Durst nicht wahrgenommen werden. Sie geraten in einen Flow oder Hyperfokus, ein Zustand, der auch bei Autisten und Menschen mit ADHS vorkommt.
Introvertierte sind sorgfältig, selbstkritisch und können gut zuhören. Sie haben ein gutes Auge für Details, erfassen dennoch rasch den Kern einer Sache. Kreative Lösungsvorschläge schwieriger Probleme stammen häufig von Introvertierten. Sie vertreten ihre Meinung auch gegen den allgemeinen Konsens, weil ihnen Gruppenzugehörigkeit weniger wichtig ist. Durch die Distanz zur Mainstream-Auffassung und mittels ihres analytisches Denkens sind sie in der Lage, ungünstige Entwicklungen und Missstände zu erkennen und notwendige, aber unliebsame Positionen einzunehmen, fungieren gleichsam als Mahner.
Langeweile kennen die meisten Introvertierten nicht, da sie über vielseitige Interessen verfügen, für deren Ausübung sie nicht auf andere Menschen angewiesen sind. Viele Künstler sind eher introvertiert.
Auf Lob sind Introvertierte weniger angewiesen als Extravertierte – hören es aber trotzdem gern, wenn es ehrlich gemeint ist, was sie aufgrund ihrer oft vorhandenen Hochsensibilität ziemlich gut unterscheiden können.
Wenn soziale Kontakte auslaugen
Ein guter Indikator dafür, ob du intro- oder extravertiert bist, ist die Auswirkung sozialer Aktivitäten auf dein Befinden. Während Extravertierte eine Geburtstagsparty oder einen Clubbesuch nicht nur genießen, sondern in Gesellschaft regelrecht „aufdrehen“, kostet es den Introvertierten Energie und zwar obwohl er die Zeit möglicherweise ebenfalls genießt. Menschenfeindlichkeit oder Angst vor sozialen Situationen sind also nicht die Ursache. Introvertierte treffen sich gern mit Freunden (am liebsten nicht zu vielen gleichzeitig) und verbringen Zeit im Kreis der Familie. Trotzdem erschöpft es sie und sie benötigen anschließend Alleinzeit, um aufzutanken. Eine Veranstaltung an einem Samstag ist für Introvertierte kalkulierbar. Eine Einladung auf einen Sonntag jedoch häufig ein Graus, weil der Tag zur Erholung fehlt, unabhängig von Schlafmangel oder zu viel Alkohol.
Durch die zahllosen flüchtigen Kontakte, die mit dem Alltag einhergehen, fühlen sich Introvertierte oft derart ausgelaugt, dass ihnen abends oder am Wochenende die Kraft fehlt, Zeit mit Familie und Freunden zu verbringen. Dabei möchten sie das, es entspricht ihrem Bedürfnis nach qualitativ gehaltvollen Kontakten (immer vorausgesetzt, es bleibt daneben noch Zeit, die sie für sich haben). Das Problem: Je anstrengender der Tag oder die Woche, desto mehr Ruhezeit ist vonnöten. Das führt zu Schuldgefühlen, weil man Menschen, die einem wichtig sind, nicht gerecht wird. Deshalb ignorieren viele Introvertierte ihr Bedürfnis nach Ruhe. In der Folge kann der angestaute Stress nicht abgebaut werden. Der innere Akku wird nicht voll aufgeladen, sondern dümpelt immer nur halb gefüllt vor sich hin. Man funktioniert zwar irgendwie, doch die Lebensfreude geht verloren.
Ein Teufelskreis: Je weniger Energie vorhanden ist, desto schneller sind die internen Energiespeicher wieder leer und desto schneller schlägt erneut die Erschöpfung zu. Ein permanentes Energiedefizit ist das Resultat. Diese Dauererschöpfung macht auf Dauer krank.
Qualität vs. Quantität
Für eine gar nicht so kleine Zahl von Menschen ist ein Zuviel an Sozialkontakten also schädlicher als eine zu geringe Dosis. Was dem einen die Einsamkeit als Quelle des Leidens, ist dem anderen die soziale Reizüberflutung. Introvertierte haben kein Problem damit, längere Zeit allein zu sein. Gesellschaftliche Anlässe, die sie oft mehr aus Pflichtgefühl als aus Überzeugung besuchen, ermüden sie dagegen.
Für die Kontakte von Introvertierten gilt: wenige, dafür tiefgründige. Introvertierte Menschen können sich stundenlang unterhalten, wenn das Thema sie interessiert und eine innere Nähe zum Gesprächspartner vorliegt. Bei für sie uninteressanten Themen driftet ihre Aufmerksamkeit hingegen schnell ab. Reden um der Kontaktpflege willen ist nichts für sie.
Auch Extravertierte pflegen tiefgründige Freundschaften, nur eben zusätzlich jede Menge oberflächliche. Viele führen gern Small Talk. Sie reden beim Zufallstreffen im Supermarkt über „Gott und die Welt“, ohne erst lange darüber nachzudenken. Solchen Unterhaltungen aus dem Stehgreif gehen Introvertierte gern aus dem Weg, was sie mitunter schroff oder unhöflich wirken lässt. Small Talk als soziales Schmiermittel ist definitiv kein Special Skill introvertierter Menschen.
Eigens dafür zurechtgelegte und eingeübte Floskeln können helfen, im Bedarfsfall schnell und sozial adäquat zu reagieren. Oder man antwortet ehrlich oder (fast) ehrlich: „Nichts gegen dich/Sie, aber ich habe gerade keine Lust (Zeit), mich mit dir/Ihnen zu unterhalten.“
Ist Schweigen immer noch Gold?
Das Ideal hat sich gewandelt, Ernst und Schweigsamkeit sind out, taugen nicht zur Unterhaltung der Massen. Selbst der einsame, vormals schweigsame Held in Film und Fernsehen plappert heute drauflos, was die Sprüchekiste an Flapsigkeiten hergibt. Apropos: Nur wenige heute gebräuchliche Sprichwörter loben das Schweigen (Silber und Gold – kennt man ja). Oder dieses, eher ironische: Besser schweigen und für dumm gehalten werden, als reden und jeden Zweifel beseitigen.
Dagegen gibt es etliche Wortspiele und Begriffe, die das Schweigen negativ darstellen oder lächerlich machen: mundfaul, auf den Mund gefallen, stoffelig, muffig, zugeknöpft, jemandem die Antworten wie Würmer aus der Nase ziehen (ziemlich eklig, wenn man bildhaft denkt), stumm wie ein Fisch, wortkarg, einsilbig, jemanden zum Schweigen bringen.
Kennst du weitere? Dann verrate sie mir doch in den Kommentaren!
Von sich auf andere schließen
Wenn du erklärst, du seist gern allein, ruft das häufig erstaunte, manchmal auch ablehnende Reaktionen hervor. Allein zu sein gilt als Mangelzustand, der behoben werden muss. Schnell folgen Sätze wie: „Jeder braucht Freunde“, „Zu viel allein sein ist ungesund“, „Vergrab dich nicht zu Hause, du verpasst das Leben“, „Gemeinsam macht alles mehr Spaß“.
Menschen denken an ihre eigenen Bedürfnisse und sehen diese durch die Mehrheit ihrer Mitmenschen gespiegelt. Medien und wissenschaftliche (Halb-)Wahrheiten bestärken sie darin anzunehmen, andere hätten dieselben Bedürfnisse. Hat jemand keine oder nur wenige Freunde und verbringt seine Zeit lieber allein, wird unterstellt, er sei unfähig, Freundschaften zu schließen oder aufrechtzuerhalten. Schlimmstenfalls stempelt man ihn als „sozial gestört“ ab. Das Fatale: Wenn ausreichend viele Personen ausreichend lange auf einen Menschen einreden, wird derjenige irgendwann selbst glauben, er oder sie sei „falsch“.
Die Unsichtbaren
20-30 % der Bevölkerung stellen nicht gerade eine kleine Minderheit dar. Dennoch sind introvertierte Menschen ein Stück weit unsichtbar. Introvertierte besitzen ein geringeres Bedürfnis, sich mitzuteilen. Gemäß dem Trend unserer Zeit sind es die Kontaktfreudigen, Impulsiven und Lauten, die das vorherrschende Persönlichkeitsideal prägen.
Dieser Konsens ist über die Zeiten im Wandel. War früher vornehme Zurückhaltung en vogue, ist es heute das selbstbewusste, lebhafte und charismatische Auftreten, das beim Publikum Emotionen weckt und widerspiegelt. Charismatische Ausstrahlung und Introversion schließen sich nicht aus, nur erschließt sich das Faszinierende einer zurückhaltenden Persönlichkeit nicht auf den ersten Blick. Sich „gut verkaufen“ können ist das Stichwort, nicht nur im Berufsleben. Auf Hochglanz polierte Präsentationen täuschen über mangelnden Inhalt hinweg, schmissiges Auftreten über fehlende Argumente.
Neben Vorlieben und Bedürfnissen werden demnach auch die Verhaltensweisen einer tendenziell extravertierten Mehrheit weitgehend unhinterfragt auf alle Menschen übertragen. Viele Introvertierte spielen das Spiel mit. Da sie gelernt haben, dass ihre leise, nachdenkliche, oft als betulich oder kühl wahrgenommene Art selten gut ankommt, tarnen sie sich – meist nicht mal bewusst – als Extravertierte. Sie legen sich ein zweites Ich zu, das für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Extravertierte dagegen zeigen ein relativ konsistentes Verhalten, sind mehr sie selbst. Natürlich passen auch sie sich an Situationen an, aber eben in viel geringerem Ausmaß.
Viele Introvertierte setzen ihr öffentliches Ich wie eine Maske auf, sobald sie das Haus verlassen. Der dazu passende Begriff Masking bezieht sich ursprünglich auf eine Anpassungsstrategie hochfunktionaler/Asperger-Autisten, die ihnen hilft im Alltag einigermaßen unauffällig zu bleiben. Ein Verhalten, das auf Dauer sehr an den Kräften zehrt. Früher oder später kommt für die meisten Betroffenen der Zeitpunkt, an dem „nichts mehr geht“. Schlafstörungen, Niedergeschlagenheit, Kopfschmerzen und andere physische und psychische Beschwerden sind die Folge. Spätestens dann ist es ratsam, über eine Änderung seiner Verhaltensmuster nachzudenken, um zu vermeiden, dass eine Chronifizierung eintritt.
Vorurteile
Gibt es jede Menge, zurückhaltende Zeitgenossen können „ein Lied davon singen“.
Mir wurde im Laufe meines Lebens nachgesagt ich sei: verschlossen, verträumt, scheu, schüchtern, ungesellig, unnahbar, arrogant, abgehoben, kalt, emotionslos, desinteressiert, sozialphobisch, unsozial, sozial inkompetent, egoistisch, seltsam, grüblerisch, depressiv, langweilig. Ein paar Zuschreibungen passen, andere nicht, einige mögen aus der Sicht einer extravertierten Person zutreffen. Eine 12-Jährige, die lieber allein in ihrem Zimmer mikroskopische Präparate herstellt, Erwachsenenbücher liest und Briefmarken und Teesorten sammelt, wirkt auf Altersgenossen zwangsläufig verschroben oder langweilig.
Introversion wird häufig verwechselt mit Schüchternheit oder Arroganz, beides Charakterzüge, die nicht angeboren, sondern erworben sind und auf der Angst vor Ablehnung beruhen. Schüchterne wünschen sich Kontakte, werden aber durch ihre eigenen Ängste blockiert, die oft auf negativen Erfahrungen wie Mobbing beruhen. Daraus kann eine soziale Phobie resultieren, die den Betroffenen stark einschränkt, jedoch recht gut durch eine Verhaltenstherapie behandelt werden kann. Als vermeintliche Arroganz kann der Versuch einer schüchternen Person gewertet werden, die Angst vor Abwertung zu überspielen, indem sie sich betont distanziert gibt.
In Bezug auf Introvertierte beruht der Vorwurf der Arroganz jedoch auf einer Fehlinterpretation. Introvertierte zeigen weniger deutlich ihre Emotionen als Extravertierte. Gerade bei größeren Zusammenkünften, in denen die Menge an Kontakten und Sinneseindrücken sie überwältigt, wirken sie oft unnahbar. Das geschieht aus Selbstschutz: Sie ziehen sich in sich selbst zurück, suchen wenn möglich einen Platz etwas abseits und beobachten mehr als zu interagieren. Nicht, weil sie sich nicht trauen, sondern weil es für sie so erträglicher ist.
Schüchternheit und soziale Ängste treten sowohl bei Intro- als auch bei Extravertierten auf, es gibt also keinen direkten Zusammenhang. Da Introvertierte aber leichter in die Rolle des Außenseiters geraten, sind sie häufiger Mobbing ausgesetzt, was die Entstehung einer Sozialphobie oder von anderen Angst- und Zwangserkrankungen begünstigen kann. Dennoch, auch sozial gut integrierte, kontaktfreudige Schülerinnen und Schüler werden Opfer von Mobbing, niemand ist davor gefeit.
Lach doch mal! – Ratschläge, die kein Introvertierter braucht
Besonders fatal ist es, wenn Introvertierten durch Eltern, Lehrer, Freunde, Kollegen, Verwandte suggeriert wird, sie wären falsch, so wie sie sind. Wohlmeinende Tipps wie „Du musst mehr aus dir herausgehen“ (wie soll das funktionieren? Out-of-body experience?), „Sei nicht immer so ernst“, „Trau dich, sei einfach locker/du selbst“ (guter Witz, dann geht das Genörgel erst richtig los), „Sag doch auch mal was“ sind Gift für eine Persönlichkeit, insbesondere, wenn diese noch nicht ausgereift ist. Betroffene entwickeln ein defizitäres Selbstbild mit oft weitreichenden Folgen wie Depression, Burnout, Sucht- oder Zwangsverhalten.
Eltern und Institutionen sind gefragt
Aufgrund dieser Risiken ist es wichtig, dass Eltern ihre Kinder nicht in Richtung des heutigen Persönlichkeitsideals zu verbiegen trachten. Leider geschieht genau das sehr häufig. Extravertierte Eltern verstehen ihr zurückhaltendes Kind nicht und denken, es müsse „aus seinem Schneckenhaus“ gelockt werden. Introvertierte Mütter und Väter erinnern sich an die Probleme, mit denen sie selbst während der Schulzeit zu kämpfen hatten. Aus diesem Grund versuchen sie die Persönlichkeit ihres Kindes durch Erziehung zu verändern, in der Hoffnung, ihm ähnlich negative Erfahrungen zu ersparen. Leider werden diese Erfahrungen in den meisten Fällen dennoch nicht ausbleiben und das Kind leidet zusätzlich durch den elterlichen Druck.
Im modernen Schulunterricht sind Sozialkompetenz, Teamfähigkeit, Flexibilität, Redegewandtheit und andere extravertierte Eigenschaften gefragt. Fundiertes Wissen und gute schriftliche Noten reichen längst nicht aus. Schülerinnen und Schüler werden auf die Anforderungen einer ebenfalls extravertierten Arbeitswelt vorbereitet, mit der Folge, dass diejenigen, denen genau diese Dinge schwerfallen, regelmäßig benachteiligt werden. Nicht aus Boshaftigkeit der Lehrkräfte, sondern weil das Benotungssystem nun einmal so aufgebaut ist. Die Entwicklung geht immer mehr in Richtung Lernen in Arbeitsgruppen mit dem Lehrer als Moderator. Individuelle Interessen und Stärken der Schüler sollen besser berücksichtigt werden. Fraglos ein sinnvoller Ansatz. Nur sollte bei der Umsetzung darauf geachtet werden, dass nicht alle Kinder und Jugendlichen für diese Methode, sich gemeinsam Sachverhalte zu erarbeiten, geeignet sind. Für introvertierte und solche mit Autismus-Spektrum-Störungen stellt die Gruppenarbeit per se eine Stresssituation dar. Anstatt den Fokus auf den Lehrstoff zu lenken, benötigen diese Schülerinnen und Schüler einen Großteil ihrer geistigen Kapazität zur Anpassung an die soziale Situation. Das kann unmöglich im Sinne von Inklusion und Berücksichtigung persönlicher Fähigkeiten sein!
Es wäre wünschenswert, wenn Schulen und Universitäten anerkennen, dass es Menschen gibt, die einerseits nicht dem vorgegebenen extravertierten Ideal entsprechen. Die auf der anderen Seite aber auch keine diagnostizierbare Beeinträchtigung wie AD(H)S oder eine Autismus-Spektrum-Störung aufweisen, für die ein Nachteilsausgleich geltend gemacht werden kann (was auch nicht immer ganz einfach ist!). Introversion ist keine Behinderung, sondern eine Normvariante, die es verdient, beachtet zu werden.
Berufswahl für Introvertierte entscheidend
Nach der für viele Introvertierte hürdenreichen Schulzeit findet sich mit etwas Glück ein Beruf, der keine ständige soziale Interaktion erfordert. Voraussetzung dafür ist, dass man für sich erkennt und akzeptiert, dass der Kontakt mit zu vielen Menschen anstrengend ist – auch und gerade dann, wenn man bisher einigermaßen zurechtgekommen ist. Das Prinzip der Gewöhnung greift hier nicht. Nur wer um seine Schwächen und Stärken weiß, ist in der Lage, sein Leben entsprechend auszurichten und ein angemessenes Maß an Zufriedenheit zu gewinnen.
Leider ist Selbsterkenntnis keine leichte Aufgabe, schon gar nicht bei einem jungen Menschen. Von außen bekommt man ständig zu hören, man müsse bloß über seinen Schatten springen. Das alles sei doch gar nicht so schwer, andere schafften es auch und mit der Zeit klappe das schon. Falls nicht, hat man sich eben nicht ausreichend angestrengt, ist also selbst schuld. Weil sie diesen falschen Glaubenssätzen vertrauen, „verirren“ sich Introvertierte in Berufe, die nicht zu ihrem Naturell passen und sie auf Dauer auslaugen.
Freude am Beruf kann die Belastung über lange Zeiträume hinweg kompensieren, aber irgendwann kommt dennoch bei den meisten der Punkt, an dem sie sich ausgebrannt fühlen. Nicht weiter verwunderlich, wenn soziale Interaktion für sich genommen bereits anstrengend ist und die Arbeit genau das beinhaltet.
Hinzu kommt: Ein introvertierter Mensch, der sich im Berufsalltag anders gibt, als er eigentlich ist, setzt sich täglich eine extravertierte Maske auf. Ständig eine Rolle zu spielen, die sehr weit entfernt vom eigenen Wesen ist, ist vor allem eins: mühsam. Damit summiert sich zu der kräftezehrenden sozialen Situation eine weitere Anstrengung. Da kann das Arbeitsklima noch so gut sein, es passt einfach nicht. Der hohe Selbstanspruch vieler Introvertierter tut sein Übriges. Kein Wunder, dass eine ungünstige Berufswahl allzu oft in den Burnout führt.
Falsche Berufswahl – ein persönlicher Erfahrungsbericht
Nach dem Studium wählte ich einen sozialen Beruf, obwohl mich allein das gleichzeitige Reden und Behandeln als Physiotherapeutin überforderte (meine Fähigkeit zum Multitasking tendiert gegen null). Warum diese eklatante Fehleinschätzung? Verschiedene Gründe kamen zusammen, hier die Kurzfassung: Ich war fest davon überzeugt, mein medizinisches Interesse für den Beruf sei ausreichend und das Kommunikative würde sich mit etwas Routine schon noch einstellen. Als Frau müsste ich solche Dinge doch quasi von Natur aus beherrschen, zumindest wird das nach wie vor gerne suggeriert, und damals glaubte ich daran. Bis zu meiner Asperger-Diagnose 2019 hatte ich tatsächlich keine Ahnung, was mit mir nicht stimmte, und suchte den Fehler stets bei mir. Die Beschäftigung mit Introvertiertheit half mir zusätzlich, meine lebenslangen Anpassungsschwierigkeiten zu begreifen.
Introversion sichtbar machen
Was hilft also? Wenn man nicht nur ein bisschen ruhiger ist als der Durchschnitt, sondern wirklich stark introvertiert? Einzig und allein die Selbsterkenntnis, dass man anders tickt als die breite Masse. Dass die eigene Art zu sein völlig in Ordnung ist. Dass man besser damit aufhört, sich in eine Schablone zu quetschen, die einen auf Dauer kaputt macht. Dazu muss man Schritt für Schritt authentischer werden, das erfordert Überwindung. Denn nun fällt man plötzlich auf. Man muss damit rechnen, dass Bekannte mit Unverständnis reagieren („Wieso kommst du nicht mit zur Feier, das hast du doch sonst immer gemacht?“), dass man Ablehnung erfährt. Es ist ein langwieriger Prozess, besonders wenn man bereits im etwas weiter fortgeschrittenen Alter ist.
Je mehr Menschen zu ihrer Art zu sein stehen, desto sichtbarer wird Introversion in der Gesellschaft. Desto eher finden auch die mit Introversion verbundenen Stärken Berücksichtigung. Ein Introvertierter brilliert vielleicht nicht mit einer perfekten Präsentation, dafür ist die schriftliche Ausarbeitung top. Warum wird jemand zur Gruppenarbeit verdonnert, der lieber allein arbeitet und dabei hervorragende Ergebnisse erzielt, während er im Team „untergeht“? Weshalb bestrafen, dass jemand beim Brainstorming nicht auf Knopfdruck mit Ideen aufwartet? Introvertierte benötigen Zeit zum Nachdenken, umso fundierter fällt ihre Antwort aus. Solange aber das extravertierte Ideal als Standard gilt, sind Introvertierte gezwungen sich anzupassen. Darauf verschwenden sie einen Großteil ihrer Ressourcen, die an anderer Stelle weit besser aufgehoben wären.
Introversion und Extraversion ergänzen sich
Abschließend ist es mir wichtig festzuhalten, dass Introvertierte nicht die „besseren Menschen“ sind. Beide Pole, Intro- und Extraversion, erfüllen wichtige Funktionen in der Gesellschaft. Die sozial Aktiven und Mutigen genauso wie die Nachdenklichen, die lieber zuerst die Risiken abwägen. Es wäre schön, wenn beide auch gleichermaßen anerkannt und ein zurückhaltendes Naturell nicht als Makel angesehen würde. Ein gewisser Umschwung lässt sich zumindest online seit einigen Jahren beobachten, mittlerweile gibt es zahlreiche Blogs zum Thema.
Bis es allerdings so weit ist, dass extra- und introvertierte Stärken gleichberechtigt nebeneinanderstehen, müssen Introvertierte ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Dazu gehört, sich nicht permanent zu verbiegen und vorzugeben, ein anderer zu sein, als man ist. Introvertierte haben gegenüber Extravertierten den zweifelhaften Vorteil, dieses Spiel zu beherrschen. Ein Extravertierter wird es schwerlich schaffen, dauerhaft Introversion vorzuspielen. Muss er freilich auch nicht. Für leise Menschen besteht die Kunst darin, herauszufinden, wo Authentizität angebracht ist und welche Situationen ein bisschen „Show“ erfordern. Anderen zuliebe oder um sich Gehör in einer lauten Welt zu verschaffen.
Literaturtipp:
Introvertiert – die leise Revolution von Linus Jonkman. Der Titel ist vermutlich bewusst etwas reißerisch gewählt und zielt darauf ab, sich Gehör zu verschaffen, siehe ein paar Zeile höher. Mir hat das Buch jedenfalls eine ganze Reihe von Aha-Momenten beschert.