„Ich bin ständig reizüberflutet, bestimmt habe ich Autismus!“
Das Stichwort „Reizüberflutung“ erzielt bei Google über 650.000 Treffer. „Reizfilterschwäche“ und „Reizoffenheit“ bringen es immerhin noch auf rund 2000 und 6000 Suchergebnisse. Gemeint sind hier in erster Linie Außenreize. Das permanente Zuviel davon ist ein Merkmal unserer lauten, hektischen Zeit, in der Informationen rund um die Uhr verfügbar sind. Davor können wir uns schützen, indem wir gezielt auswählen, welche Informationen für uns relevant sind. Wenn wir nicht ständig dem Bedürfnis nachgeben, das Neueste aus der Social-Media-Bubble zu erfahren, in der Angst „irgendwas“ zu verpassen. Wem das nicht gelingt – und das sind leider die Meisten – der erlebt zwangsläufig immer wieder Augenblicke der Reizüberflutung, auch bei durchschnittlicher Sensibilität und ohne unter Autismus oder AD(H)S zu leiden.
Hochsensibel zu sein, bedeutet jedoch, auch da von einer Flut von Sinneseindrücken überwältigt zu werden, wo durchschnittlich Sensible nichts wahrnehmen oder sich allenfalls angenehm stimuliert fühlen. Hochsensibel ist man nicht nur in bestimmten Situationen, sondern 24 Stunden am Tag, ein Leben lag.
Ist Reizoffenheit gleich Autismus?
Dass hochsensible Personen (HSP) besonders reizoffen sind und die empfangenen Reize zudem oft schlecht filtern können – also Schwierigkeiten haben, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen und Letzteres auszublenden –, ist per Definition so (mehr zum Thema Hochsensibilität). Aber weshalb führt die Erkenntnis, besonders empfindlich auf Reize zu reagieren, so oft zu der Annahme, jemand sei autistisch?
Die Antwort lautet, dass Autismus seit einigen Jahren ziemlich angesagt ist, so sehr, dass Autismus-Spektrum-Störungen mittlerweile als Modediagnose gelten. Die mediale Aufmerksamkeit für das Thema ist seit den Zeiten von „Rainman“ stark gestiegen. Leider kommen auf eine gut recherchierte Doku über Autismus zehn weitere, die Halbwahrheiten verbreiten oder sich nur einen bestimmten Aspekt autistischen Seins herauspicken. Und das ist häufig die erhöhte Empfänglichkeit für Reize, unter der viele Autisten leiden. Auch wird Autismus oft sehr positiv dargestellt oder gar als Superkraft verherrlicht. Die erheblichen Einschränkungen, die Autismus auch für hochfunktionale Betroffene mit sich bringt, kommen allenfalls als Randnotiz vor. Kein Wunder also, dass immer mehr Menschen sich als autistisch erkennen. Manche zu Recht, andere liegen falsch und sind eben „nur“ hochsensibel oder introvertiert (zum Beitrag Introvertiert oder autistisch?) oder ticken sonst ein bisschen anders. Bei einigen liegt vielleicht eine Persönlichkeitsstörung vor wie die schizoide Persönlichkeitsstörung, die selbst für Fachleute mitunter schwierig von Autismus abzugrenzen ist.
Was ist Autismus?
Autismus ist eine neurologische Entwicklungsstörung, die in der Kindheit auftritt und lebenslang anhält. Menschen mit Autismus haben Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion und in der Kommunikation mit anderen Menschen. Weiterhin zeigen sie stereotype Verhaltensweisen und haben eng eingegrenzte Interessen. Autismus wird heute als Spektrum gesehen, da die Ausprägung, d. h. die Art, wie sich der Autismus zeigt, von Person zu Person sehr unterschiedlich sein kann. Gleiches gilt für den Schweregrad, also wie stark die autistischen Eigenschaften das Leben von Betroffenen einschränken. Die erhöhte Reizoffenheit ist übrigens kein Kernsymptom von Autismus.
Die Entstehung von Autismus ist genetisch bedingt, auch Umweltfaktoren spielen vermutlich eine Rolle. Die Theorie der „Kühlschrankmütter“ als Autismus-Ursache ist glücklicherweise dorthin gewandert, wohin sie gehört: ins Reich der medizinischen Märchen. Genauso unwahrscheinlich ist es, dass Impfungen Autismus verursachen. Die Annahmen, wie viele Gene an der Entstehung von Autismus beteiligt sind, bewegen sich zwischen mehreren Dutzend und Tausenden. Um zu entschlüsseln, um welche Gene es sich handelt und warum diese bei manchen Menschen Autismus auslösen, bei anderen nicht, ist noch viel Forschungsarbeit im Bereich der Genetik und Epigenetik nötig. Schätzungen zufolge liegt die Wahrscheinlichkeit, Autismus zu vererben, übrigens bei 90 Prozent.
Was versteht man unter Hochsensibilität?
Lärm, Gedränge, grelles Licht oder intensive Gerüche stören und überfordern auch viele Hochsensible. Allerdings ist ihre Reaktion darauf in der Regel weniger heftig als bei Autisten, sie bleiben aufgrund ihrer besseren exekutiven Funktionen noch handlungsfähig. Eine hochsensible Person wird müde oder gereizt reagieren, „ausrasten“ wird sie in aller Regel jedoch nicht und auch nicht erstarren und dabei die Fähigkeit zu sprechen zeitweilig einbüßen. Oft entwickelt sie dagegen körperliche Symptome wie Kopf- oder Bauchschmerzen und muss sich zurückziehen, um sich zu erholen.
Hochsensibilität ist eine Normvariante des neuronalen Systems, die maximal 15-20 Prozent der Menschen betrifft. Vielleicht auch weniger, da schwer zu sagen ist, wo Hochsensibilität anfängt und wo sie endet. Hochsensible (oder hochsensitive) Personen nehmen Sinneseindrücke – Geräusche, Gerüche, Licht, Berührungen sowie fremde und eigene Emotionen – stärker wahr als andere Menschen. Ihr Gehirn verarbeitet Informationen intensiver und ist dadurch schnell überwältigt und überfordert. Hochsensibilität ist keine klinische Diagnose, sondern ein Teil der Persönlichkeit. Wie Introversion ist Hochsensibilität angeboren, jedoch kann das Umfeld, in dem man aufwächst, die hochsensiblen Eigenschaften verstärken oder abschwächen. Die äußeren Umstände, aber auch die innere Haltung, die jemand zu seiner besonders sensiblen Art entwickelt, bestimmen, ob Hochsensibilität ein Leben eher belastet oder bereichert.
Gemeinsamkeiten von Hochsensibilität und Autismus
In beiden Fällen handelt es sich um neurologische Besonderheiten, die die Wahrnehmung von Umweltreizen, aber auch von eigenen und fremden Emotionen betreffen. Hochsensibilität kann, muss aber nicht, ein Aspekt von Autismus sein. Viele Autisten reagieren extrem auf Reize, insbesondere akustische und optische. Ein Zuviel an ungefilterten Sinneseindrücken führt zum Overload, dem – falls die Möglichkeit fehlt, der Situation zu entkommen oder sie abzustellen – ein Meltdown oder Shutdown folgen kann. Manche Autisten leiden aber auch im Gegenteil unter Hyposensibilität und nehmen z. B. Kälte und Schmerzen oder Hunger und Durst kaum wahr.
Sowohl für Hochsensible als auch für Autisten sind Kommunikation und soziale Interaktion sehr häufig mit Anstrengung verbunden. Während Gespräche mit Einzelpersonen, besonders, wenn es sich um jemanden Vertrautes handelt, meist noch gut zu bewältigen sind, stellen Gruppensituationen eine Herausforderung dar. Kommt dann noch eine laute, unruhige Umgebung hinzu, geraten Autisten wie Hochsensible schnell an ihre Grenzen. Die Gründe dafür sind allerdings unterschiedlicher Natur, wie im folgenden Abschnitt beschrieben.
Hochsensible fühlen generell mehr
Ein wesentlicher Unterschied zwischen Hochsensibilität und Autismus ist, dass ein Hochsensibler in allen Bereichen hochsensibel ist. Er nimmt nicht nur Außen- und Innenreize stärker und ungefilterter wahr als ein durchschnittlich Sensibler, sondern besitzt auch sehr feine Antennen für zwischenmenschliche Signale. Eine hochsensible Person registriert eine Stimmungsveränderung ihres Gegenübers bereits an kleinsten Veränderungen in dessen Mimik und Gestik, Körperhaltung und Sprachmelodie. Oft erahnt sie dessen Absichten, noch bevor der andere sie selbst bemerkt. Diese Flut von Gefühlen und Intentionen kann für Hochsensible mitunter sehr erschöpfend sein und eine anschließende Erholungsphase erfordern. Das trifft insbesondere auf introvertierte Hochsensible zu, die ihre Energie ohnehin aus dem Alleinsein schöpfen.
Autisten hingegen fehlt in aller Regel das intuitive Gespür für nonverbale Kommunikationsmuster, die sie sich stattdessen über den Verstand erschließen müssen. Das erfordert deutlich mehr geistige Kapazität als intuitives Verstehen, weshalb die Interaktion mit anderen, besonders wenn es sich um mehr als nur eine Person handelt, für Autisten oft mühselig und anstrengend ist.
Merkmale von Autismus, die Hochsensible in der Regel nicht haben
- Soziale Interaktion: Menschen mit Autismus haben Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion und im Verständnis sozialer Regeln und Normen, da sie diese nicht intuitiv erkennen, sondern sie sich über Nachdenken erschließen müssen (siehe vorheriger Abschnitt). Hochsensible Menschen können zwar sozial gehemmt oder schüchtern sein, haben aber ein grundlegendes, intuitives Gespür für soziale Interaktion, oft ist es sogar sehr ausgeprägt.
- Verhaltensweisen: Autisten haben oft stereotype Verhaltensweisen, wie z. B. wiederholte Handlungen oder Bewegungen. Ihr Tagesablauf folgt meist strengen Routinen. Werden gewohnte Abläufe gestört, geraten sie leicht „aus dem Takt“. Hochsensible Menschen zeigen keine stereotypen Bewegungen und verfügen über ein übliches Maß an Flexibilität.
- Interessen: Menschen mit Autismus haben oft ein sehr eingeschränktes Interessengebiet (ein bis zwei Spezialinteressen), während Hochsensible eine breite Palette von Interessen haben können.
- Diagnose: Autismus ist eine Diagnose, die auf der Grundlage bestimmter Kriterien gestellt wird und als Behinderung gilt. Hochsensibilität dagegen ist kein medizinischer Begriff und es gibt keine eindeutigen Kriterien, um festzustellen, ob jemand hochsensibel ist. Hochsensibilität ist keine Behinderung, auch wenn sie Betroffenen mitunter Probleme bereiten kann.
Fazit
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Autismus und Hochsensibilität sehr unterschiedliche Konzepte sind, die nicht verwechselt werden sollten. Während Autismus eine neurologische Entwicklungsstörung ist, gilt Hochsensibilität als Persönlichkeitsmerkmal. Aus dem Vorhandensein einer Hochsensibilität auf Autismus zu schließen ist daher unzulässig. Erschöpfung durch soziale Kontakte resultiert bei Hochsensiblen aus anderen Ursachen als bei Autisten. Eine verstärkte Empfindsamkeit auf Reize sowie eine Reizfilterschwäche können Merkmale von Autismus sein, zählen jedoch nicht zu den Kernkriterien für die Diagnose.
Quellen
Hochsensibilität – Mit feinem Gespür, Schweizerische Ärztezeitung, 1917
Universitätsklinikum Heidelberg: Autismus Die genetische Vielfalt besser verstehen, 2021
Bild von Pexels auf Pixabay
Hi, danke für deine gute Zusammenfassung. Ich hätte noch ein paar Anmerkungen zur Hochsensibilität, weil es oft verwechselt wird. Hochsensibilität ist ein angeborenes Temperament und damit nicht änderbar, d.h. kein Persönlichkeitsmerkmal (das man selbst entwickelt hat). Es gibt jeweils 50% Männer und Frauen. Außerdem gibt es weniger Unterschiede bei hochsensiblen Menschen, die in unterschiedlichen Kulturen aufgewachsen sind, als im Vergleich bei den neurotypischen Menschen.
Es handelt sich auch nicht um eine reine Reizfilterschwäche, auch wenn die Überreizung oft vorkommen kann, ist es nicht allein das Hauptkriterium.
Hochsensibilität ist derzeit nur eine Selbsteinschätzung. Es gibt zwar Tests, aber keine „offizielle Stelle“ wie ein Arzt, der das bestätigt und damit auch keine Unterstützung von irgendwelchen Stellen. D.h. hier ist man sehr auf die eigene Selbstfürsorge und Selbstannahme angewiesen.
Leider wird Hochsensibilität oft als Schwäche oder Spinnerei ausgelegt, da es nicht der aktuellen gesellschaftliche Norm entspricht, was dem Individum leider nicht weiterhilft oder sogar schadet. Es entsteht dann ähnlich wie bei Autisten das Masking, um sich selbst zu schützen, d.h. dahinter verstecken sich Hochsensible wie ein Chamäleon. Leider reduzieren sie sich damit aber auch selbst bis zur Unkenntlichkeit. Ein Lernen von sozialen Normen ist oft nicht nötig. Hochsensible verstehen schnell, aber „zu gut“, ohne dabei auf sich selbst zu achten. Auf die eigenen Grenzen aufzupassen ist daher sehr wichtig.
Liebe Katrin,
vielen Dank für dein Lob sowie die interessanten Ergänzungen zum Thema Hochsensibilität.
Besonders spannend finde ich die Annahme, dass es zwischen Hochsensiblen weniger kulturbedingte Unterschiede gibt als zwischen Normalsensiblen. Vom „Bauchgefühl“ her stimme ich voll zu, kenne aber keine Untersuchungen, die das zum Inhalt haben. Hast du dazu evtl. Quellen?
Ja, es ist traurig, dass hochsensible Menschen wie auch Introvertierte ihr wahres Ich in unserer Gesellschaft bis zur Unkenntlichkeit verbiegen oder verbergen, um nicht als „schwach“ angesehen zu werden. Leider gilt viel zu oft: je lauter und schriller, umso besser. Wer der Norm nicht entspricht, wird schnell als „komisch“ wahrgenommen. Daher finde ich es wichtig, Aufklärung zu betreiben, wo immer es geht. Wie du schreibst, ist Selbstfürsorge für Hochsensible besonders wichtig.
Herzliche Grüße
Julia