Hochsensibilität

1996 etablierte die US-amerikanische Psychologin Dr. Elaine Nancy Aron das Konstrukt Hochsensibilität (auch Hypersensibilität, Hoch-/Hypersensitivität genannt). Ihr Buch The Highly Sensitive Person: How to Thrive When the World Overwhelms You (deutsche Übersetzung: Sind Sie hochsensibel? Wie Sie Ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen, mvg Verlag, 2005) wurde ein Bestseller. Offenbar fühlten sich sehr viele Menschen von dem Thema angesprochen. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Mit sensory-processing sensitivity bezeichnete Aron die Sensibilität der sensorischen Reizverarbeitung. Ein Teil der Bevölkerung nimmt äußere und innere Reize stärker wahr als der Durchschnitt, und zwar sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht. Es kommt also einerseits eine größere Menge an Reizen im Gehirn an, das diese Informationen andererseits auch intensiver verarbeitet.

Highly sensitive person (= hochsensible Person) wird häufig mit HSP abgekürzt, so auch in diesem Text. 

Facetten der Hochsensibilität

Gemeinsam mit ihrem Ehemann Arthur Aron leistete Elaine Aron Pionierarbeit in Sachen Hochsensibilität. Nach einer von Aron, Aron und Jagiellowicz im Jahr 2012 publizierten Studie gehören neben der sensorischen Sensitivität eine vertiefte Informationsverarbeitung, erhöhte emotionale und physiologische Reaktivität sowie eine Verhaltenshemmung zum Komplex Hochsensitivität.

Die sensorische Sensitivität umfasst alle Arten von Sinnesreizen (Sehen, Hören …), außerdem Körpersignale (Hunger, Müdigkeit), eigene Gefühle sowie die Stimmungslagen anderer. HSP nehmen auch sehr subtile Formen von Reizen wahr, die Normalsensiblen entgehen. Sie sind daher schnell reizüberflutet und brauchen häufige Ruhepausen in entspannter Umgebung. Missstimmungen in ihrem Umfeld spüren sie sofort und können kaum verhindern, dass diese auf sie überspringen.

Unter einer vertieften Informationsverarbeitung ist das intensive Nachdenken über Erfahrungen und Einsichten zu verstehen, einhergehend mit einer erhöhten Gedächtnisleistung, die diese Erkenntnisse speichert. Das führt dazu, dass HSP aktuelle Situationen fortwährend mit vergangenen abgleichen und auf diese Weise meist zutreffend einschätzen können. Die angeborene, nicht zu unterdrückende Nachdenklichkeit kann in zermürbenden Grübelzwang ausarten.

Erhöhte emotionale und physiologische Reaktivität bezeichnet die Auswirkungen von Reizen auf eine Person. Äußere und innere Reize überfordern Hochsensitive schnell. Sie lösen Stress aus, und bekanntermaßen ist Stress eine sowohl psychische als auch körperliche Reaktion. Aber auch Angenehmes empfinden HSP intensiver. Viele fühlen sich durch Erlebnisse in der Natur und durch Kunst, insbesondere Musik, tief bewegt.

Die Verhaltenshemmung äußert sich in abwartendem Verhalten in neuen, unbekannten Situationen. Ein Hochsensibler handelt nicht sofort, er sondiert erst mal die Lage. Auch in der Tierwelt ist ein solches „gehemmtes“ Verhalten zu beobachteten. Etwa 20 Prozent einer Population erkunden nicht wie die Mehrheit aktiv die Umgebung, sondern beobachten sie wachsam. Die Mischung beider Verhaltensformen sichert das Überleben der gesamten Gruppe.

Ist Hochsensibilität dasselbe wie Introvertiertheit?

Vor Aron beschäftigten sich Psychologen wie Pawlow, Jung, Miller und Kagan mit dem Phänomen der höheren Feinfühligkeit im Rahmen ihrer Studien, ohne jedoch ein eigenständiges Konzept abzuleiten. In seiner Beschreibung des introvertierten Einstellungstyps erwähnt Jung die höhere sensorische und emotionale Empfindsamkeit. Tatsächlich gibt es Überschneidungen zwischen Introversion und Hochsensibilität, dennoch ist beides nicht deckungsgleich. Das Persönlichkeitsmerkmal Introversion ist umfassender und schließt in vielen Fällen die hochsensible Wahrnehmung und Reizverarbeitung mit ein. Umgekehrt ist nicht jede HSP introvertiert, auch wenn eine Tendenz vorliegen mag. Nach Aron sind 70 % der HSP introvertiert, 30 % extravertiert.

Was genau bedeutet Hochsensibilität?

Hochsensibilität beinhaltet nicht, dass die Sinnesorgane feiner arbeiten, wie beispielsweise bei Hyperakusis, einem überdurchschnittlichen Hörvermögen. Natürlich kann das zusätzlich der Fall sein. Laut Aron liegt die höhere Sensibilität in einer abweichenden Art der neurophysiologischen Reizverarbeitung begründet. Die besonders feine Wahrnehmung und leichte Erregbarkeit sei psychobiologisch und damit angeboren. HSP sind oft kreative Menschen mit einem ausgeprägten Sinn für Ästhetik, gleichzeitig sind sie häufig anfälliger für Stress als der Durchschnitt. Hochsensibilität ist keine Störung oder psychische Krankheit, allerdings neigen Betroffene aufgrund ihrer höheren emotionalen Verletzlichkeit eher zu Angsterkrankungen und anderen Störungen als Normalsensible. 

Wie viele Menschen sind hochsensibel?

Die Meinungen darüber, wie viele Menschen hochsensibel sind, gehen weit auseinander und reichen von nur zwei Prozent bis zu fast einem Drittel der Bevölkerung. Die meisten Quellen geben einen Wert von 20-25 % an. Problematisch wird die Einschätzung dadurch, dass sich Störungsbilder wie Burn-out, einige affektive Störungen sowie hochfunktionaler Autismus nicht eindeutig vom Konzept „hochsensibel“ abgrenzen lassen. So taucht die Über-, aber auch die Untererregbarkeit auf Reize bei Autismus-Spektrum-Störungen im neuen DSM-V als Diagnosekriterium auf. Auch eine Reizfilterschwäche, das heißt die mangelnde Fähigkeit, wichtige von unwichtigen Informationen zu trennen, ist sehr häufig bei Autisten, ADHS/ADS-Betroffenen, aber eben auch Hochsensitiven anzutreffen. Zwar gibt es zahlreiche Tests, um Hochsensibilität anhand eines Fragenkatalogs festzustellen, doch fehlt derezeit noch ein einheitliches, wissenschaftlich anerkanntes Untersuchungsverfahren.

Ist Hochsensibilität angeboren?

Aron geht davon aus, dass die reizverarbeitenden Hirnstrukturen von HSP sich grundsätzlich von denen Normalsensibler unterscheiden. Jüngere Neurowissenschaftliche Studien scheinen das zu bestätigen. Es finden sich Unterschiede in den Mustern der Hirnaktivität bei Hoch- und Normalsensiblen. HSP zeigten eine erhöhte Aktivität der Insula, einem Hirnareal, das durch seine multisensorische Funktion mit generellem Bewusstsein in Verbindung steht. Dieselbe Studie wies aktivere Spiegelneuronen nach, was das ausgeprägte Empathievermögen von HSP erklären könnte (Studie von Acevedo u. a., 2014). Empathie bezeichnet die Fähigkeit, Gefühle anderer mitzuempfinden, Gedanken nachzuvollziehen und Absichten (auch versteckte) zu erkennen. Hochsensible verarbeiten Informationen langsamer, aber gründlicher. Es sind mehr und andere Hirnareale als bei Normalsensiblen beteiligt, weshalb die Verarbeitung länger dauert. Dieselbe Beobachtung konnte bei MRT-Untersuchungen der Gehirne von Introvertierten gemacht werden.

Ist hochsensibel ein Euphemismus für neurotisch?

Einige Wissenschaftler betrachten Hochsensibilität lediglich als spezielle Ausprägung des Persönlichkeitsmerkmals Neurotizismus, eine der Dimensionen im 5-Faktoren-Modell. Dazu würde passen, dass Hochsensible im Allgemeinen weniger gut mit beruflichem und privatem Stress umgehen können und emotional labiler sind. Träfe dies zu, wäre „Hochsensitive Person“ lediglich eine beschönigende Bezeichnung für „Neurotiker“.

Es greift jedoch zu kurz, Hochsensibilität auf dieses eine Merkmal zu reduzieren. Denn, das betonen Aron und weitere Forscher, die sich mit dem Konzept der erhöhten Empfindsamkeit auseinandersetzen, HSP nehmen nicht nur unangenehme Sinneseindrücke und Emotionen intensiver wahr, sondern auch positive. Diese Fähigkeit hängt allerdings auch von Erfahrungen im Kindesalter ab. Davon, ob jemand in einem beschützenden und gleichzeitig fördernden Umfeld aufwuchs oder in einem überbehütenden, gleichgültigen oder restriktiven. Wer als Kind stets gesagt bekam, er solle sich nicht so anstellen, lernt, dass seine sensible Art falsch ist. Entsprechend wird er oder sie sich bemühen, der eigenen Wahrnehmung zu misstrauen und eigene Bedürfnisse zu ignorieren, um nicht negativ aufzufallen und sich Spott oder Mitleid auszusetzen.

Wir Hochsensiblen sind ein Gesamtpaket. Unsere Sensibilität bedeutet auch, dass wir vorsichtig sind und mehr Zeit allein brauchen. Weil Menschen ohne diese Eigenschaft (also die Mehrheit) das nicht versteht, sieht sie uns als ängstlich, schüchtern, schwach, oder – das Schlimmste von allen – ungesellig. Aus Angst vor diesen Stempeln versuchen wir, wie die anderen zu sein. Doch das führt nur dazu, dass wir noch überforderter und gestresster sind. Und dann bekommen wir noch einen Stempel: Wir seien neurotisch oder verrückt … erst sagen es die anderen, und dann glauben wir es vielleiht selbst. 

Elaine N. Aron

Resilienz von Hochsensiblen

Der zweite Punkt, der gegen die Annahme, Hochsensitivität sei eine Spielart des Neurotizismus, spricht, ist die bei manchen Hochsensiblen ausgeprägte Resilienz und emotionale Stabilität. Sie mögen auf Alltagsstress empfindlicher reagieren. Außergewöhnlichen Herausforderungen ausgesetzt, scheint ihre neurobiologische und psychische Grundausstattung jedoch nicht selten eine höhere Widerstandsfähigkeit zu generieren. Hier könnte hineinspielen, dass HSP wie auch Introvertierte über ein reiches Innenleben verfügen, dass sie weniger abhängig von äußeren Umständen macht.

Zudem sind HSP daran gewöhnt, sich ständig über alles und jede(n) Gedanken zu machen. Fast immer entwickeln sie im Vorfeld Strategien, falls etwas nicht so klappt wie beabsichtigt. Dieses kontinuierlich im Hintergrund ablaufende „Plan-B“-Programm könnte auch in Lebenskrisen helfen, handlungsfähig und damit selbstwirksam zu bleiben, eine wichtige Voraussetzung für Resilienz.

Eine weitere Erklärung für die erhöhte Resilienz könnte sein, dass die Sensitivität das ästhetische Empfinden betreffend, stark ausgeprägt ist, während die erhöhte Reaktion auf Sinnesreize, die zu Stress führt, weniger deutlich vorliegt. Diese zwei unterschiedlichen Bereiche sehen Kritiker allerdings auch als Nachweis gegen ein einheitliches Konzept von Hochsensitivität, da diese sich auf ganz unterschiedliche Eigenschaften beziehe. Nichts Neues für die Befürworter des Konzepts, die ebenfalls von einer Mehrdimensionalität ausgehen. Jedoch gilt: Eine starke Empfänglichkeit für Ästhetik bedeute nahezu immer auch eine stärkere Sensitivität in anderen Bereichen, wobei selten alle Sinneskanäle betroffen sind. Wer lichtempfindlich ist, muss nicht gleichzeitig sensibel auf Gerüche, Geräusche oder taktile Reize reagieren.

Ist Hochsensibilität eine Modeerscheinung?

Diplom-Psychologin Dr. Sandra Konrad zufolge, die an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg zur Hochsensibilität forschte, suchen Menschen in einer zunehmend chaotischen Welt Orientierung und Gemeinsamkeiten. Hochsensibilität ist ein positiv besetzter Begriff, der viele anspricht, darunter auch solche, auf die er gar nicht zutrifft. Manche mögen sich vorschnell für hochsensibel halten, auch wenn ihre vermeintlich hochsensitive Reaktion auf ein spezielles Ereignis ganz durchschnittlich ist. Andere möchten sich vielleicht wichtigmachen oder führen Hochsensibilität als Rechtfertigung für eine Sonderbehandlung an.

„Neurotisch, gehemmt und ästhetisch empfindsam“ – würde die gängige Bezeichnung für besonders sensible Menschen so lauten, wäre die Zahl derjenigen, die sich darin wiedererkennen, sicherlich geringer.

Die meisten jedoch, die sich im Konzept Hochsensibilität aufgehoben fühlen – und das sind dann wohl auch die, die tatsächlich hochsensibel sind – verspüren Erleichterung. Ihre außergewöhnlichen Empfindsamkeit auf Reize und ihre Stressanfälligkeit beruhen nicht auf einem Mangel an Selbstdisziplin oder daran, dass sie „sich anstellen“. Viele, die als Kind, oft auch noch als Erwachsene, als „Sensibelchen“ belächelt wurden, besitzen nun eine nachvollziehbare Erklärung. Mit dem Wissen, dass ihr Wahrnehmungssystem feiner funktioniert als das ihrer Mitmenschen, können sie sich bessere Rahmenbedingungen schaffen, um Überlastungen entgegenwirken. Und schließlich hat Hochsensitivität ihre guten Seiten: Kreativität, die Fähigkeit, intensiv Kunst und Natur zu genießen, starke Empathie. HSP macht man so schnell nichts vor, sie spüren sehr genau, wie jemand zu ihnen steht.

Forschungsstand und Studien zur Hochsensibilität

Kennzeichen erhöhter Sensitivität

Elaine Aron entwickelte das sogenannte DOES-Modell, demzufolge vier Indikatoren eine Hochsensitivität ausmachen:

D (Depth of processing) = gründliche Informationsverarbeitung

O (Overstimulation) = Übererregbarkeit

E (Emotional reactivity and empathy) = (starke) emotionale Berührbarkeit und (hohes) Empathievermögen

S (Sensing the subtle) = Wahrnehmung (auch) subtiler Reize, Details

Andere Forscher formulierten etwas andere Schwerpunkte:

  • Leichte Erregbarkeit (z. B. „Stimmungen anderer Menschen beeinflussen mich“)
  • Ästhetische Sensibilität (z. B. „Ich habe eine feine Wahrnehmung für unterschwellige Dinge in meiner Umgebung“)
  • Niedrige sensorische Reizschwelle (z. B. „Ich fühle mich leicht überwältigt von intensiven Reizen wie Lärm“)

Orchideen, Tulpen und Löwenzahn

In einer Studie von 2018 unterschieden Aron und Kollegen 3 Sensitivitätskategorien:

  1. wenig sensitiv (29 % = Löwenzahn-Gruppe, wenig durch ungünstige Umweltbedingungen beeinträchtigt)
  2. normalsensitiv (40 % = Tulpen-Gruppe)
  3. hochsensitiv (31 % = Orchideen-Gruppe)

(Link zur Studie)

In der 2-schrittigen Studie mit mehr als 900 Beteiligten wiesen die Wissenschaftler nach, dass die Unterscheidung nicht „hochsensitiv – ja oder nein“ lautet, sondern dass es Abstufungen gibt, wobei sich relativ klar drei Gruppen herauskristallisierten. Weiterhin gelang es dem Forscherteam, Zusammenhänge zwischen Hochsensibilität und den Dimensionen Neurotizismus sowie Extraversion aus dem BIG-Five-Modell aufzuzeigen. Die Orchideen-Gruppe wies signifikant höhere Werte in der Kategorie Neurotizismus auf, während die Löwenzahn-Gruppe durchweg niedrige Punktzahlen erreichte. Innerhalb der Dimension Extraversion verhielt es sich genau umgekehrt. Die Tulpen-Gruppe zeigte eine gemischtes Ergebnis mit einem Durchschnittswert im mittleren Bereich beider Dimensionen.

Blümchen, wandel dich – mal Orchidee, mal Löwenzahn?

Die Unterteilung in drei Sensitivitätsgruppen scheint in der Praxis allerdings noch komplexer zu sein, wie Jay Belsky, Psychologe und Professor für Bildungsforschung an der University of California, herausfand. In drei aktuellen Studien konnten er und sein Team zeigen, dass auch innerhalb der einzelnen Gruppen keine Eindeutigkeit herrscht, insbesondere nicht bei den mäßig sensiblen Tulpen. Basierend auf den Daten einer amerikanischen Langzeitstudie mit mehr als 1300 Kindern zwischen von 10-15 Jahren untersuchte Belsky reaktive Verhaltensweisen auf gute und schlechte Erfahrungen in Elternhaus und mit Gleichaltrigen. Der mit Abstand größte Teil der Gruppe ließ sich den Tulpen zuordnen, nur ein Anteil von etwa 10 % waren Löwenzahn-Kinder und noch weniger Orchideen. Allerdings verhielt sich die große Gruppe der normalsensitiven Tulpen nicht in allen untersuchten Bereichen moderat sensibel, sondern sehr unterschiedlich. Einige waren beispielsweise stark durch ungünstige Umstände im Elternhaus geprägt, andere blieben davon unberührt, reagierten aber heftig auf Ablehnung durch Gleichaltrige. Genau genommen pendelten sie damit zwischen den Polen Orchidee und Löwenzahn hin und her (Link zur Studie).

Zwei weitere von Belsky geleitete Studien, eine von Anfang 2022, erzielten vergleichbare Resultate.

Neurosensitivität

Warum lassen sich einige Menschen nicht oder nur bedingt einer der Sensitivitäts-Kategorien zuordnen?

Bei der Eigenschaft Sensibilität, die grundsätzlich jeder Mensch (und jedes andere Lebewesen) besitzt, handelt es sich um ein Spektrum. Wie ausgeprägt diese Eigenschaft ist, hängt davon ab, welche weiteren Komponenten neben der erblichen hineinspielen. Das betrifft weitere Persönlichkeitsmerkmale ebenso wie das soziale Umfeld und persönliche Erfahrungen.   

Um dies zu verdeutlichen, führte Michael Pluess, Professor für Psychologie an der Queen Mary University in London, den Begriff „Neurosensitivität“ ein. Neurosensitivität ist nach Pluess „die Fähigkeit, Umgebungsreize zu verstehen und zu verarbeiten“, um sich so an die Umwelt anzupassen. Neurosensitivität ist demnach NICHT gleichzusetzen mit Hochsensitivität wie des Öfteren zu lesen. Wie bei Aron sind sowohl interne als auch externe Reize gemeint.

Erhöhte Neurosensitivität ist nach Pluess die gesteigerte Fähigkeit, Reize wahrzunehmen und zu verarbeiten. Das höhere Sensitivitätslevel basiert auf der stärkeren Sensitivität des zentralen Nervensystems, die genetisch festgelegt ist. Wie sich die Sensitivität im Verlauf des Lebens ausprägt, hängt von fördernden oder hemmenden Erfahrungen während der wichtigsten Entwicklungsphasen ab.

Pluess, der auch an der „Blumen-Studie“ sowie an Belskys Forschungen beteiligt war, legte vier grundsätzliche Sensitivitätstypen fest:

  • Geringe Sensitivität (genetisch bedingt niedriges Sensitivitätslevel)
  • Vantage Sensitivität („vorteilhafte“ Sensitivität: genetische Disposition zu erhöhter Sensitivität + günstige Bedingungen in Kindheit & späterer Umwelt)
  • Generelle Sensitivität (genetische Disposition zu erhöhter Sensitivität + durchschnittlich günstige Kindheit & spätere Umwelt)
  • Vulnerable Sensitivität („verletzliche“ Sensitivität: genetische Disposition zu erhöhter Sensitivität + ungünstige Kindheit & spätere Umwelt)

Darüber hinaus stellten Pluess und Belsky in ihrer Studie von 2013 fest, dass besonders sensitive Menschen sowohl für negative wie auch positive Einflüssen empfänglicher sind, während wenig Sensitive von beidem kaum beeinflusst werden. Anders als reine „Orchideen“-Kinder profitieren reine „Löwenzahn“-Kinder nicht von besonders günstigen Bedingungen noch können ihnen ungünstige Erfahrungen (bis zu einem gewissen Grad) viel anhaben.

Um es mit den Worten von Elaine Aron zu beschreiben:

Hochsensible nehmen ihre Umgebung in allen Aspekten intensiver wahr und denken darüber mehr nach. Deshalb tut ihnen ein positives Umfeld ungleich besser als anderen. Ein negatives Umfeld schadet ihnen dagegen mehr als anderen.

(Elaine Aron im Interview auf welt.de vom 1.3.2015)

Licht- und Schattenseiten von Hochsensibilität

2020 stellte Dr. Patrice Wyrsch weitere Überlegungen zu Pluess’ Erkenntnissen an, wobei er die Auswirkungen positiver Einflüsse noch deutlicher miteinbezog.

Auf seiner Website erklärt Wyrsch die vier Facetten erhöhter Neurosensitivität:

Erhöhtes Bewusstsein aufgrund aktiverer Insula

Erhöhte Empathie aufgrund aktiverer Spiegelneuronen

Tiefere Informationsverarbeitung

→ Die „Sonnenseite“ gesteigerter Sensitivität

Anfälliger für Überstimulation (höhere Stressanfälligkeit)

→ Die „Schattenseite“ gesteigerter Sensitivität

Angelehnt an Pluess leitet er drei Formen von erhöhter Sensitivität ab:

  • Vantage Sensitivität: empfänglicher für positive Einflüssen, widerstandsfähiger gegenüber negativen Einflüssen
  • Generelle Sensitivität: empfänglich für positive und negative Einflüssen, ein Auf und Ab der Gefühle
  • Vulnerable Sensitivität: widerstandsfähiger gegenüber positiven Einflüssen und empfänglicher für negative Einflüssen, was zu chronischen psychischen Beeinträchtigungen führt

Kann man lernen, weniger verletzlich zu sein?

Wie die oben erwähnten Studien von Jay Belsky zeigen, ist die individuelle Ausprägung der Hochsensitivität nicht in Stein gemeißelt. Auch wenn die vulnerable Form vorliegt, können mentale Trainingsmethoden wie Achtsamkeitsübungen und Resilienzstärkung helfen, weniger anfällig für negative Einflüsse zu werden und die Offenheit für Positives zu verbessern. Dazu gehören Geduld, Wissen und – je nach Schweregrad der Vulnerabilität – professionelle Anleitung in Form von Psychotherapie oder geeignetem Coaching. 

Fazit

Hochsensibilität ist ein plausibles Konzept, um die Besonderheiten, die man an sich selbst oder an anderen bemerkt, zu erklären. Die Wissenschaft ist weit genug fortgeschritten, um nahezulegen, dass Hochsensibilität ein eigenständiges Persönlichkeitsmerkmal ist. Die spezielle Ausprägung beruht auf dem Zusammenspiel von angeborenen und umweltbedingten Faktoren. Im Bereich der biologisch bedingten Hintergründe ist noch Forschungsarbeit nötig, um die genetischen Aspekte höherer Feinfühligkeit zu entschlüsseln und so die neurophysiologischen Prozesse im nicht grundsätzlich anders, aber vielleicht etwas komplizierter „verdrahteten“ Gehirn hochsensitiver Personen zu verstehen.

Nicht die Hochsensibilität allein bestimmt die Persönlichkeit

Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Menschen sich nicht allein durch ihre vorhandene – oder nicht vorhandene – Hochsensitivität auszeichnen. Ebenso entscheidend sind weitere Charaktereigenschaften. Nach dem Big-Five-Modell ergeben sich diese aus dem jeweiligen Ausmaß von:

  • Offenheit für Erfahrungen
  • Gewissenhaftigkeit
  • Extraversion
  • Verträglichkeit
  • Neurotizismus

Hinzu kommen individuelle Erfahrungen durch Elternhaus, Umfeld und Bildung sowie etwaige Krankheiten und Schicksalsschläge. Auch der Intelligenzgrad spielt eine Rolle. Erst zusammengenommen machen all diese Einzelheiten einen Menschen aus.

Die Sensitivitätstypen ergänzen sich

Hochsensitive sind nicht psychisch gestört, sind weder lebensuntüchtige Sensibelchen noch die besseren Menschen. Sie sind ein Teil der Gesellschaft, nicht anders als Normal- und Wenigsensitive. Jede Gruppe verfügt über besondere Stärken und Schwächen, die genetisch angelegt sind, um eine bestmögliche Anpassung der menschlichen Spezies an veränderliche Umweltbedingungen zu gewährleisten. Manchmal ist rasches Vorpreschen nötig, zu anderen Zeiten zahlen sich Abwarten und Beobachten aus. Und häufig braucht es eben ein gewisses Maß an Flexibilität beim einzelnen Individuum – wahrscheinlich der Grund, warum die Tulpen die größte Gruppe bilden. Auf unsere heutige Zeit übertragen wäre es wünschenswert, wenn gerade hochsensitiven Kindern rechtzeitig Fördermöglichkeiten und Hilfen eröffnet würden, damit sie ihre besonderen Anlagen optimal entwickeln können – für mehr persönliche Lebenszufriedenheit UND zum Wohle der Gesellschaft.

Tests

Test Are You Highly Sensitive? von Elaine Aron auf ihrer Website

Sensitivitätstypen-Test von Patrice Wyrsch

Quellen

Spektrum.de: Hochsensibilität. Der Streit um die Feinfühligkeit

Spektrum.de: Resilienz. Kinder können zugleich sensibel und robust sein

Psychologische Praxis Maren Thoss: Hochsensibilität in der Forschung

Hochsensibilität.ch: Das Potential der Hochsensiblen

Website und Blog von Patrice Wyrsch

Website und Blog von Elaine N. Aron

Weitere Websites und Blogs zum Thema Hochsensitivität (eine Auswahl)

Netzwerk Hochsensibilität (Link)

Zart besaitet (Link)

Forscher-Website und Blog u. a. von Michael Pluess (Link)


Illustration: Geralt auf Pixabay