Sie schwimmen im Ozean, sehen sich relativ ähnlich und sind doch grundverschiedene Spezies: Fische (bzw. Wale, die sich für den geplanten Vergleich aufgrund ihrer Körpergröße aber nicht eignen) und Delfine. Erst auf den zweiten Blick zeigen sich die Unterschiede. Introvertierte und Autisten gehören zwar beide der biologischen Art Homo Sapiens an, dennoch sind ihre Besonderheiten nicht austauschbar. Auch wenn sie im Verhalten oft ähnlich erscheinen, sind die jeweiligen Hintergründe andere.
Autismus ist ein populäres Thema. Bücher, Filme, Dokumentationen und Fernsehserien mit autistischen Protagonisten vermitteln ein meist plakatives, hin und wieder realistisches, manchmal komplett falsches Bild. Dass die Macher gerne auf Klischees zurückgreifen, kann man ihnen nicht zum Vorwurf machen, da Autismus ein breites Spektrum an Eigenschaften und Einschränkungsgraden aufweist. Die alle in einer Doku zu zeigen, würde den Rahmen der allermeisten Formate sprengen – und für fiktive Geschichten greift das Argument der künstlerischen Freiheit bzw. Übertreibung. Trotz oder gerade wegen dieser Fülle an Informationen besteht in der breiten Bevölkerung erhebliche Verwirrung darüber, was Autismus nun eigentlich ist.
Besonders häufig wird Autismus mit Introversion oder Introvertiertheit gleichgesetzt. Dafür gibt es plausible Gründe, falsch ist es trotzdem.
Gemeinsamkeiten von Autismus und Introversion
Eine mehr oder weniger ausgeprägte Ungeselligkeit zeichnet beide aus, introvertierte wie autistische Menschen. Positiver formuliert: Sie können hervorragend für sich sein und ziehen das Alleinsein häufig der Gemeinschaft mit anderen vor. Dass jemand lieber für sich bleibt, erscheint der tendenziell extravertierten Mehrheit suspekt und das schürt Vorurteile. Introvertierte gelten als schüchtern, unsozial – oder eben als autistisch. Autisten werden oft als gefühlskalt, arrogant oder ebenfalls als schüchtern wahrgenommen. Richtig ist: Schüchternheit kann zusätzlich zur Introversion bzw. dem Autismus auftreten, ist aber etwas völlig anderes. Schüchternheit ist in aller Regel nicht angeboren, nicht abhängig vom Grad der Introvertiertheit und keinesfalls ein Synonym dazu. Eine schüchterne, sozial ängstliche Person fürchtet die negative Bewertung durch andere. Daher kann auch jemand mit ursprünglich extravertiertem Charakter aufgrund schlechter Erfahrungen eine Schüchternheit oder als Steigerung eine Sozialphobie entwickeln – was umso schwerer wiegt, da er sich aufgrund seiner nach außen gerichteten Persönlichkeitsstruktur mehr nach Gesellschaft sehnt als ein Introvertierter und daher stärker unter einem diesbezüglichen Mangel leidet. Schüchternheit entwickelt sich meist bereits im Kindergarten- oder Grundschulalter durch Ausgrenzungserlebnisse oder Hänseleien. Introvertierte, insbesondere aber Autisten werden häufig Opfer von Mobbing, da sie aufgrund ihrer Andersartigkeit abgelehnt werden. Einen Freundeskreis, der gegen Mobbing schützt, haben sie häufig nicht und sind dadurch noch angreifbarer.
Weil sie sehr oft schon früh im Leben zu spüren bekommen, dass ihre Art zu sein nicht erwünscht ist, lernen sowohl Autisten als auch Introvertierte sich anzupassen, indem sie das Verhalten der Mehrheit kopieren. Introvertierte verbergen, dass sie eigentlich lieber alleine zu Hause ein Buch lesen würden, statt eine laute, volle Veranstaltung zu besuchen. Autisten prägen sich neurotypische Verhaltensmuster ein und hoffen, dadurch weniger aufzufallen. Beide betreiben Masking, was auf Dauer anstrengend und dem Selbstbild nicht förderlich ist.
Dass Introvertierte und die meisten Autisten das Alleinsein genießen, bedeutet nicht, dass sie andere Menschen nicht mögen oder überhaupt keinen sozialen Kontakt wünschen. Ganz im Gegenteil: Viele Autisten leiden unter Einsamkeit, da es ihnen schwerfällt, Freundschaften oder Partnerschaften einzugehen. Dass sie trotz ihres Wunsches nach Gemeinschaft mit sozialer Interaktion überfordert sind und schnell in einen sozialen Overload geraten, erschwert ihre Situation zusätzlich. Autistische und introvertierte Menschen benötigen viel Zeit für sich allein, in der sie sich von geselligen Situationen erholen und neue Energie tanken. In ruhigen Umgebungen fühlen sie sich wohler als in unübersichtlichen Menschenmassen, Gespräche mit wenigen (oder einer einzelnen) vertrauten Person(en) ziehen sie Unterhaltungen in größeren Gruppen vor.
Introvertierte Personen neigen dazu, sich tiefergehende Gedanken zu machen und intensiver zu empfinden, Eigenschaften, die sie mit Hochsensiblen, aber auch mit vielen Autisten teilen. Sowohl Introvertierte als auch Autisten bevorzugen meist eine langsame und sorgfältige Herangehensweise an die Dinge und machen ihre Entscheidungen weniger von der Meinung der Mehrheit abhängig als neurotypische Extravertierte.
Introvertierte schöpfen Energie aus dem Alleinsein im Gegensatz zu Extravertierten, die sich unter Menschen am wohlsten fühlen und in der Gemeinschaft mit anderen ihre Akkus aufladen. Autisten und Introvertierte stoßen oft auf Ablehnung, da die moderne westliche Gesellschaft extravertiertes Verhalten bevorzugt. In Schule und Berufsleben zählen soziale Soft Skills beinahe ebenso viel wie die fachliche Qualifikation. Wer in der Mittagspause für sich bleibt, gilt schnell als Sonderling und macht sich bei Kollegen und Chef unbeliebt. Und das, obwohl ein Großteil aller genialen Erfindungen auf brillante Einzelgänger zurückgeht, die sich in ihren Überlegungen nicht von gesellschaftlichen Konventionen und der Meinung der Mehrheit beeinflussen ließen.
Was unterscheidet Introvertierte und Autisten?
Autismus gilt als angeborene Entwicklungsstörung, Introversion ist ein Persönlichkeitsmerkmal. Autismus ist eine neurologische Andersartigkeit, die die Art und Weise beeinflusst, wie jemand kommuniziert, soziale Interaktionen erlebt und sensorische Reize wahrnimmt. Das autistische Gehirn ist „anders verdrahtet“ als das Gehirn Neurotypischer. Autisten haben Schwierigkeiten, sich in sozialen Situationen zurechtzufinden, die für andere intuitiv oder selbstverständlich sind. In der Regel haben sie eingeschränkte Interessen, zeigen stereotype Verhaltensweisen und weisen sensorische Über- oder Unterempfindlichkeiten auf. Die meisten Autisten sind eher introvertiert, umgekehrt ist aber nur ein kleiner Teil aller Introvertierten zugleich autistisch. Unter Autisten gibt es auch extravertierte Charaktere, die den Kontakt zu anderen Menschen suchen und sehr offen auf diese zugehen. Da sie soziale Signale nicht bemerken oder falsch verstehen, werden sie oft als sonderbar, manchmal auch als aufdringlich wahrgenommen.
Anstelle der früheren Aufteilung in frühkindlichen, atypischen und Asperger-Autismus wird Autismus heute in Schweregrade unterteilt, je nachdem, wie ausgeprägt die Schwierigkeiten im Alltag und der Unterstützungsbedarf sind.
Sofern introvertierte Menschen ebenfalls Unterstützung bedürfen, liegt das nicht an der Introversion, sondern ist auf Ängste, Depressionen etc. zurückzuführen. Introvertierte haben keine Probleme damit, nonverbale Kommunikation zu verstehen, auch dann nicht, wenn sie schüchtern oder sozialphobisch sind (wobei sozial Ängstliche dazu tendieren, die Signale anderer falsch oder übertrieben negativ zu interpretieren oder irrtümlich auf sich selbst zu beziehen). Allerdings verschlechtern sich die sozialen Fähigkeiten von jemandem, der sehr zurückgezogen lebt, mit der Zeit aufgrund mangelnder Übung, sodass er autistisch wirken kann. Die Interessen Introvertierter können ebenfalls ausgefallen sein, allerdings fehlt die ungewöhnliche Art und Weise, mit der Autisten ihrem jeweiligen Spezialinteresse nachgehen, indem sie sich ausschließlich mit einem eng umschriebenen Teilgebiet befassen, oder aber die Interessen sind breiter gefächert. Stereotype Verhaltensweisen und starre Routinen zeigen Introvertierte normalerweise nicht, und unvorhergesehene Ereignisse werfen sie für gewöhnlich nicht völlig aus der Bahn.
Fazit
Sowohl Autismus als auch Introversion sind mit Klischees und falschen Vorstellungen verbunden, weshalb Autisten und Introvertierte oft missverstanden und diskriminiert werden. Trotz vieler Gemeinsamkeiten ist Introversion nicht dasselbe wie Autismus. Jenseits von Kategorien wie Charaktermerkmalen, erworbenen Wesenszügen, Entwicklungs- und Persönlichkeitsstörungen, ist es wichtig, die jeweils damit verbundenen Vorurteile zu durchbrechen. Je mehr das Augenmerk auf Eigenschaften und Stärken, aber auch dem vielleicht vorhandenen Unterstützungsbedarf eines jeden Individuums liegt, desto eher wird eine inklusive Gesellschaft gelingen.
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