Authentizität – (gerechtfertigter) Hype oder Horror?
„Sei du selbst, alles andere ergibt sich.“
„Zufriedenheit wurzelt in der Entscheidung, man selbst zu sein.“
„Lebe so, wie es sich richtig anfühlt, und nicht so, dass es von außen gut aussieht.“
Sinnsprüche zum Thema Authentizität geistern täglich durch die sozialen Medien. Ihr Zweck: Denjenigen, der sie postet, als besonders individuellen, unverfälschten Charakter ausweisen. Denn authentisch zu sein ist en vogue. Unabdingbarer Bestandteil, wenn es darum geht, die Möglichkeiten der eigenen Persönlichkeit auszuloten. Auch dieser Blog dreht sich darum, bedeutet „unverstellt“ doch nichts anderes als „authentisch“.
„Authentische Typen“, gleich welchen Geschlechts, haben es nicht nötig, sich zu verstellen, so der allgemeine Tenor. Sie sind sich selbst treu, stehen zu ihren Ecken und Kanten. Man weiß immer, woran man bei ihnen ist, das macht ihren Charme aus und lässt sie sympathisch wirken. Authentizität ist eine vorteilhafte Eigenschaft, die man sich nur zu gerne selbst zuschreibt.
Mal davon abgesehen, dass man, um zu wissen, ob sich jemand wirklich authentisch verhält, ihn relativ gut kennen muss, stellt sich die Frage, ob Authentizität wirklich immer etwas Positives ist. Der notorische Nörgler, der seine Energie daraus zieht, anderen den Tag zu vermiesen, ist in seinem Tun schließlich auch authentisch.
Gesellschaftlich akzeptiert und erwünscht ist Authentizität nur, solange sie eine bestimmte Erwartungshaltung erfüllt. Einer angesehenen Person des öffentlichen Lebens verzeiht man gelegentliche Ausrutscher, sofern sie die Grenzen des Akzeptablen nur schrammen und kein Dauerzustand sind. Der Schauspieler, der seinem Ärger über aufdringliche Paparazzi lautstark Luft macht, wirkt echt und nahbar. Ebenso der Promi, der sich ab und zu ein Gläschen über den Durst genehmigt. Auch ein Idol hat sich nicht immer im Griff, das kennt jeder von sich selbst. Wenn derselbe Schauspieler jedoch im Suff seine Partnerin verprügelt oder rassistische Parolen vom Stapel lässt, ist er in der öffentlichen Meinung nicht mehr authentisch, sondern ein Arschloch. Was aber eben nur zur Hälfte stimmt.
In der Literatur und online finden sich zumeist Beiträge, für die Authentizität der Schlüssel zur Persönlichkeitsentwicklung ist. Ich führe kein Beispiel an, denn es gibt unzählige. Seltener stößt man auf solche, die den Authentizitätshype für ausgemachten Quatsch halten, wie z. B. diesen. An mir selbst habe ich beobachtet, dass ich im Vergleich zu früher viel mehr von meinem wirklichen Ich zeige und dass mir das gut tut. Grund genug, das Phänomen „Authentizität“ genauer unter die Lupe zu nehmen.
Was genau bedeutet Authentizität – und was nicht?
Der studierte Betriebswirtschaftler und Philosoph Rolf Dobelli, Bestseller-Autor mehrerer populärer Ratgeber, widmet in seinem Buch Die Kunst des guten Lebens: 52 überraschende Wege zum Glück der Authentizität ein Kapitel und lässt kaum ein gutes Haar daran. Weg Nummer 9 „Die Authentizitätsfalle“ beinhaltet, gerade nicht nach möglichst viel Authentizität zu streben, sondern sich einen „Außenminister“ für das eigene Ich zuzulegen, der einen in allen offiziellen Belangen vertritt und verhindert, zu unpassender Gelegenheit Schwächen zu offenbaren. Das verletzliche Ego zu schützen und es nicht unverhüllt zur Zielscheibe gegnerischer Attacken und Spott zu machen, klingt erst mal nach einem vernünftigen Rat. Betrachtet man jedoch genauer, was Dobelli unter authentisch sein versteht, so darf man durchaus geteilter Meinung sein, ob erstens das, was er beschreibt, wirklich den Kern des Authentizitätsbegriffs trifft, und zweitens, ob ein solcher „Außenminister“ immer Segen ist und nicht auch Fluch sein kann.
Impulsives Verhalten gleich Authentizität?
Heißt sich unverstellt verhalten, jedem Bedürfnis sofort nachzugeben, quasi ungehemmt „die Sau rauszulassen“? Jeden Gedanken – und sei er noch so wirr – sofort in die Welt hinauszuposaunen? Fremden und Freunden gleichermaßen seine geheimsten Gedanken anzuvertrauen? In Dobellis Beispiel mit Lisa, dem fleischgewordenen Albtraum jedes Knigge-Verfechters, die ungekämmt und verlottert zum Date im Restaurant erscheint und schließlich mit dem Kopf auf der Tischplatte einschläft, suggeriert der Autor genau das. Ist das nun Authentizität – oder bloß schlechtes Benehmen? Die Grenzen sind fließend. Allerdings muss ein authentischer Mensch keineswegs den Drang haben, jedem mitzuteilen, was er zum Mittag gegessen hat und dass er jetzt gleich aufs Klo muss. Auch wenn diese spezielle Art der Authentizitäts-Inszenierung in den sozialen Medien ziemlich angesagt ist.
Unverstellt leben umfasst jedoch nicht, ungefragt jede Banalität des eigenen Privatlebens preiszugeben und seine innersten Gedanken nach außen zu kehren.
Stangls Online-Lexikon für Psychologie und Pädagogik beschreibt Authentizität wie folgt: „Authentizität bedeutet, dass Menschen sich gemäß ihrem wahren Selbst, d. h., ihren Gedanken, Emotionen, Bedürfnissen, Werten, Vorlieben und Überzeugungen entsprechend ausdrücken und handeln […] Authentizität bedeutet auch, sein wahres Selbst in sozialen Beziehungen offen zu zeigen, was aber nicht ausschließt, dass man sich in verschiedenen sozialen Rollen unterschiedlich verhält. Obwohl im Allgemeinen Authentizität als positives Merkmal einer Persönlichkeit verstanden wird, gibt es dennoch Kontroversen darüber, ob auch negative und pathologische Verhaltensweisen authentisch sein können.“
Authentizität setzt ein übereinstimmendes Bild von innerem und äußeren Sein voraus. Wie ich nach außen hin wirke, entspricht weitgehend meinem Denken und Fühlen. Das bedeutet nicht, dass ich auf Höflichkeit und Rücksichtnahme pfeife.
Die Sozialpsychologie kennt 4 Voraussetzungen für Authentizität (nach Michael Kernis und Brian Goldman):
- Bewusstsein: Selbsterkenntnis, Wissen um Stärken und Schwächen, Fähigkeit, eigenes Verhalten zu reflektieren
- Ehrlichkeit: Das eigene Selbst so sehen, wie es ist, und auch negative Rückmeldungen akzeptieren
- Konsequenz: Handeln gemäß den eigenen Überzeugungen, selbst wenn dies Nachteile mit sich bringt
- Aufrichtigkeit: Anderen gegenüber sein wahres Selbst zeigen und nicht verleugnen
Authentizität und soziale Rollen
Nach der oben zitierten Definition widerspricht das Erfüllen sozialer Rollen nicht dem Grundsatz der Authentizität. Selbstverständlich benehme ich mich auf einer Beerdigung anders als auf einer Party und wieder anders im beruflichen Kontext. Sich situationsangepasst und gleichzeitig entsprechend den eigenen Überzeugungen zu verhalten, kann dennoch eine Gratwanderung sein, vor allem dann, wenn es darum geht, einen möglichst guten Eindruck beim Gegenüber zu hinterlassen. Mitnichten aus Eitelkeit, sondern weil etwas auf dem Spiel steht, z. B. bei einem Bewerbungsgespräch. Mag sein, dass es in manchen Branchen in Ordnung ist, seine Abneigung gegen Klatsch und Tratsch mit Kollegen am Mittagstisch zu bekunden und von vornherein klarzustellen, man verbringe seine Pause grundsätzlich allein. Meistens wird allerdings erwartet, dass man sich in ein bestehendes Team einfügt, was nach so einer Aussage angezweifelt werden könnte. Muss man sich also doch verstellen, will man um jeden Preis vermeiden, die eigene Bewerbung zu torpedieren? Nicht unbedingt. Der authentischere Weg wäre, Rahmenbedingungen für Teamarbeit anzusprechen, auf die man persönlich Wert legt, beispielsweise klare Kompetenzen und Aufgabenverteilung. Dass man am liebsten allein zu Mittag isst, wird, erklärt man es freundlich, normalerweise akzeptiert, wenn die berufliche Zusammenarbeit stimmt. Das ist nicht un-authentisch, nur etwas eleganter, als damit herauszuplatzen, man hasse nichts so sehr wie endlose Meetings und Small Talk. Realistisch in seinen Erwartungen sollte man allerdings bleiben. Eine Stelle, die permanent Teamwork und Interaktion verlangt, ist für jemanden, der am liebsten nur für sich hinter geschlossener Bürotür arbeitet, nicht unbedingt geeignet.
Aber auch abseits von Sondersituationen verhalten sich viele Menschen nicht, wie es ihrem inneren Empfinden entspricht, sondern wie es gesellschaftlich erwartet wird. So steht man eben nicht mitten im Konzert oder Theaterstück auf, weil man die Darbietung für großen Mist hält, sondern leidet still bis zum erlösenden Ende. Beim Geburtstag der Schwiegermutter lehnt man den aufgezwungenen Nachschlag nicht ab – sie könnte beleidigt sein –, sondern riskiert lieber Bauchweh. Fürs Familienfoto wird auf Teufel komm raus in die Kamera gegrinst, obwohl man sich selbst für fotogener mit ernstem Gesicht hält. Warum? Weil es „sich nun mal so gehört“. Ein wenig mehr Mut, zu seiner eigenen Meinung zu stehen – taktvoll vorgebracht, wo es vonnöten ist –, täte mitunter gut.
Gruppendruck vs. Authentizität
Der Mensch ist ein Herdentier. Wenn die Herde in eine Richtung schwenkt, geschieht das im stillen Einverständnis, unabhängig davon, ob der richtungsändernde Impuls im Inneren der Herde entstand oder von außen kam. Aber nicht alle Individuen stimmen mit der neuen Richtung überein. Wessen innere Einstellung und persönliche Werte mit dem Kurs kollidieren, der beugt sich ihm nicht und wenn doch, gezwungenermaßen. Wer gemäß seinen Überzeugungen handelt, lässt sich nicht so leicht durch Massenbewegungen beeinflussen. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Bewegung sinnvoll und gut ist oder nicht. Authentisch verhalten sich somit sowohl Ewiggestrige, die überkommene gesellschaftliche Normen in Gefahr sehen, als auch besonnene Mahner, die vor schädlichem Aktionismus und fragwürdigen Trends warnen. Nicht selten zeigt erst die Zukunft, welche Kategorie zutrifft.
Der Druck, sich an eine Gruppe anzupassen, durchzieht sämtliche Lebensbereiche und Altersklassen. Insbesondere für Heranwachsende ist die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Clique identitätsstiftend, weil sie gleichzeitig die Abgrenzung von anderen Jugendlichen sowie dem Elternhaus ermöglicht. Gruppendruck herrscht sowohl in reglementierten Verbindungen als auch in „Szenen“ und Subkulturen, weil eine Gruppenidentität nur existieren kann, indem sie sich von der anderer abgrenzt. Für Individualität bleibt nur ein sehr abgesteckter Spielraum, wobei manche Szenen erheblich toleranter und offener für Einflüsse von außen sind als andere. Meist gilt jedoch: Wer sich den Verhaltensregeln seiner Gruppe nicht beugt, läuft Gefahr, an den Rand gedrängt oder ausgeschlossen zu werden. Menschen, die ihren eigenen Werten und Überzeugungen folgen, fühlen sich häufig keiner Gruppe so richtig zugehörig.
Authentisch zu sein ist ein Anspruch, den wir selbst hegen und der zudem von außen an uns herangetragen wird, indem das Man-selbst-Sein zum Nonplusultra stilisiert wird. Können und müssen wir dem gerecht werden? Insbesondere, wenn unsere introvertierte, hochsensible oder autistische Art am Rande der Gaußschen Normalverteilung angesiedelt ist, was das Authentischsein eher knifflig gestaltet? Häufiger als bei anderen kollidiert unser Wunsch nach Authentizität mit dem sozialen Druck, sich anzupassen. Jenseits gewisser, selten klar definierter Grenzen im sozialen Miteinander ist Authentizität nämlich unerwünscht. Je weiter eine Person ihrer inneren Haltung nach von einer aktuellen gedachten Norm entfernt ist, umso stärker wird ihr Zwiespalt, einerseits gesellschaftliche Erwartungen zu erfüllen, sich andererseits selbst treu zu bleiben.
Das fängt bei der Kleidung an, umfasst Gepflogenheiten wie Höflichkeits- und Anstandsregeln, Freundschaften, Bedürfnis nach Gesellschaft, Sexualität, Feiern, Konsumgewohnheiten etc. und endet bei der Wahl der eigenen Bestattung (sofern man sich rechtzeitig darüber Gedanken macht). Was andere von uns halten, ist uns sehr oft wichtiger, als unseren Überzeugungen zu folgen.
Mit Authentizität kann man sich auch schaden. Sie kann es erschweren, eigene Wünsche und Interessen durchzusetzen, wenn es einem nicht liegt, diese sozial verträglich in nette Floskeln und Umschreibungen zu „verpacken“. Sie kann im Extremfall einsam machen. Deshalb verwundert es nicht, dass z. B. introvertierte Menschen gerade in jüngeren Jahren alles daransetzen, nicht seltsam oder eigenbrötlerisch zu wirken.
Warum Authentizität manchen leichter fällt als anderen
Ob jemand authentisch ist, hängt nicht nur vom Selbstbewusstsein des Betreffenden ab, auch wenn das gern suggeriert wird. Zwei weitere Faktoren – einen deutete ich schon an – sind mindestens ebenso wichtig:
- Wie massenkompatibel ist jemand?
- Wie viel Authentizität kann er/sie sich leisten?
Wer mit seinen Überzeugungen, Werten, Gedanken und Vorlieben im Mainstream-Bereich liegt, für den ist es relativ leicht, authentisch zu sein. Wer hingegen von der Masse abweicht, hat es wesentlich schwerer. Für ihn bleibt die Option, sich zu verstellen, und damit – sofern das gelingt – paradoxerweise oft als echt und sympathisch wahrgenommen zu werden, weil er einem bestimmten Bild entspricht. Oder er verhält sich tatsächlich gemäß seines wahren Ichs, auch auf die Gefahr hin, anzuecken und bei den meisten Mitmenschen weniger als authentisch, sondern vielmehr als merkwürdig durchzugehen. Seine „Macken“ nicht verbergen, zu seiner besonderen Art zu sein stehen – das erfordert Selbstbewusstsein.
Wer sich in einem Abhängigkeitsverhältnis befindet, kann es sich oft schlicht nicht leisten, sein Selbst offen zu zeigen. Ruckzuck wird man gemobbt, im Job übergangen oder ersetzt. Entscheidungsträger wie Ämter nehmen einen als unkooperativ wahr und man handelt sich Nachteile ein. Je unabhängiger wir von anderen Menschen sind, desto weniger haben wir negative Konsequenzen zu befürchten, wenn wir frei heraus sagen, was wir denken, und uns auch sonst so verhalten, wie es unseren Überzeugungen und Wünschen entspricht.
Wenn man nun aber weder einen herausragenden gesellschaftlichen oder finanziellen Background vorweisen kann noch über ein massenkompatibles Ich verfügt, wird authentisches Verhalten schnell zum Hürdenlauf. Als stark introvertierte und/oder hochsensible Person, womöglich mit einem oder beiden Füßen im Autismus-Spektrum, stehen wir regelmäßig vor der Frage, wie viel von unserer Art zu sein wir nach außen hin zeigen können. Häufig lautet die Entscheidung, sich so gut es geht anzupassen an gesellschaftliche Normen und Rollenbilder, um Konflikten und Ausgrenzung aus dem Weg zu gehen. Authentisch ist das nicht, aber leider oft nötig. Es wäre schön, wenn unsere Gesellschaft Authentizität nicht bloß dort feiert, wo sie ihr in den Kram passt.
Ich oder Avatar-Ich?
Insbesondere für Autisten mit Schwierigkeiten im sozialen Umgang kann die Übernahme einer auf die Situation zugeschnittene Rolle bzw. eines passenden Handlungsmodus eine Erleichterung bedeuten. Nichtautisten machen das ebenfalls, nur eben weitgehend intuitiv. Für das Gespräch mit dem Chef schlüpft man in die Angestelltenrolle, zum Einkaufen in den Einkaufsmodus, beim Arzt in die Rolle des Patienten usw. Das bewusste Hineinversetzen in eine Rolle mit bestimmten Zuschreibungen und Verhaltensregeln gestaltet Stress und Angst verursachende Situationen übersichtlicher. Problematisch wird es immer dann, wenn sich das „Rollenspiel“ bis ins Private zieht und man sich – außer allein – gar nicht mehr unverstellt zeigt.
Wenn genug eigenes Ich in die jeweilige soziale Rolle einfließt, ergibt das ein authentisches Bild. Klafft hingegen eine Lücke zwischen Selbstdarstellung und Selbstwahrnehmung, ähnelt dieses Bild einer Maske und gerät leicht in Schieflage, sobald die Performance einmal missglückt. Von außen wird das entsprechend als un-authentisch und gekünstelt wahrgenommen. Anders ausgedrückt, kann es durchaus sinnvoll sein, eine bestimmte Seite seiner Persönlichkeit gezielt Situationen zuzuordnen, sie z. B. bei geschäftlichen Verhandlungen als „Außenminister“ im Sinne Dobellis einzusetzen, um professionell aufzutreten. Das lässt sich trainieren. Eine Rolle zu spielen, die dem eigenen Wesen hingegen fremd ist, wird immer nur mehr oder weniger gelungene Laiendarstellung bleiben und unecht wirken.
Die soziale Rolle als Gefängnis
Wird unser Avatar-Ich nicht bloß situationsbedingt, sondern dauerhaft aufrechterhalten, kostet das jede Menge Energie – selbst dann, wenn es sich scheinbar von selbst einschaltet. Das bedeutet lediglich, dass die Anpassung ziemlich weit fortgeschritten ist. Wenn wir uns z. B. regelmäßig von der ewig jammernden Kollegin als seelischer Mülleimer benutzen lassen. Eigentlich mögen wir sie nicht mal sonderlich. Vielleicht haben wir ihr zu Anfang ein paar Mal zugehört, und nun geht sie davon aus, sie könne sich immer an uns wenden. Andere Kollegen bekommen das mit und wenden sich nun ebenfalls an uns, wann immer sie ein offenes Ohr brauchen. Und weil wir in der Rolle der verständnisvollen Kollegin gefangen sind, ändern wir nichts. Wir lassen zu, dass der Avatar unsere Ressourcen an Zeit und Energie frisst, umso mehr, je größer die Diskrepanz zwischen ihm und dem eigentlichen Ich ist.
Einem solchen „Außenminister“ täglich für viele Stunden das Ruder zu überlassen, setzt ja auch voraus, Anteile des eigentlichen Ichs permanent zu unterdrücken. Irgendwann weiß man nicht mehr, wer man eigentlich ist, besitzt keine echte Identität und verliert den Bezug zu seinen Bedürfnissen. Kann eine berufliche oder sonstige Lebenssituation, die so was auf Dauer fordert, dem psychischen Wohlbefinden zuträglich ist? Eine Frage, die sich jeder Arbeitnehmer stellen sollte, der in einem unglücklichen Umfeld festhängt, das seine Vorlieben und Stärken missachtet und ihn dazu zwingt, stattdessen permanent gegen seine Schwächen anzukämpfen. Ein stark Introvertierter, der ungern mit Menschen agiert, aber umso lieber mit Zahlen und Daten, ist in der Buchhaltung sicherlich besser aufgehoben als in der Kundenbetreuung. Einen Hochsensiblen setzt die laute Produktionshalle oder das Großraumbüro unter Dauerstress, für ihn eignet sich ein ruhiger Arbeitsplatz, an dem er seine Tätigkeit auch viel effizienter verrichten könnte – und zwar ohne wiederkehrende Kopfschmerzattacken.
Exkurs: Sind Extravertierte authentischer?
Linus Jonkman beschreibt in seinem Buch Introvertiert – Die leise Revolution Ähnliches. Während extravertierte Menschen gemeinhin keine Schwierigkeiten haben, in den allermeisten sozialen Situationen sie selbst zu sein, ist das für Introvertierte deutlich schwieriger.
„Extrovertierte sind oft leicht zu verstehen, weil sie ihre Persönlichkeit ausleben. Sie sagen dir, was sie denken und fühlen. Selbst wenn du es schaffst, sie ruhig zu halten, scheint ihre Meinung in Körpersprache und Mimik auf tausend Arten durch.“
(Jonkman, S. 172)
Dagegen erfährt das in sich gekehrte Verhalten Introvertierter in unserer modernen westlichen Gesellschaft, in der extravertierte Eigenschaften wie Offenheit, Sich-Präsentieren-Können und Kontaktfreudigkeit als Tugenden gelten, wenig Anerkennung. Ganz so eindeutig ist der Sachverhalt selbstverständlich nicht. Jonkman nimmt auf die Stärken Introvertierter Bezug und dass diese durchaus auch geschätzt werden. Dennoch bestärkt mich Jonkmans Theorie, Extravertierte hätten es in unserer Gesellschaft leichter, in meiner Überzeugung, dass es für „Andersmenschen“ eine besondere Herausforderung darstellt, authentisch zu sein.
Ein Extravertierter – sofern er nicht an sozialen Ängsten oder einer psychischen Erkrankung leidet – braucht viel seltener einen „Außenminister“, sein inneres Ich stimmt weitgehend mit dem äußeren überein. Für ihn besteht die soziale Anpassungsleistung vielleicht darin, zu verbergen, wenn er einen schlechten Tag hat, wenn er ungeduldig, misstrauisch oder aufbrausend ist. Im Gegensatz zur Introversion handelt es sich hierbei um Charakterzüge, die nicht ständig zum Tragen kommen und nicht die ganze Persönlichkeit ausmachen. Falls doch, ist der Betreffende womöglich nicht ganz so neurotypisch wie gedacht – Extravertiertheit bewahrt nicht vor psychischen Störungen.
Wer authentisch sein will, muss sich selbst kennen
Identität ist nicht in Stein gemeißelt. Sie wandelt sich im Laufe eines Lebens. Dennoch besitzt jeder Mensch einen Kern von Ich-Identität, der relativ konstant bleibt. Dazu gehört, ob man eher intro- oder extravertiert ist sowie weitere angeborene bzw. sehr früh im Leben erworbene Persönlichkeitsmerkmale. Auch wenn die Performance jeden in der Umgebung überzeugt, wird aus einem Introvertierten nie ein waschechter Extravertierter. Vielleicht glaubt der Betreffende irgendwann selbst, extravertiert zu sein. Die Erschöpfung nach sozialen Situationen bleibt jedoch, und womöglich gibt er oder sie sich selbst die Schuld für seine oder ihre Antriebslosigkeit und hat Angst, langweilig zu wirken. Statt sich die dringend benötigte Auszeit von sozialer Interaktion zu nehmen, bemüht er sich erst recht gesellig zu sein und gerät so aus Unkenntnis der eigenen Persönlichkeit nach und nach in einen Teufelskreis, der schlimmstenfalls Burn-out und Depression zur Folge hat.
Zur Selbsterkenntnis gehört zu akzeptieren, dass man sich nie hundertprozentig selbst kennt. Eine Hilfe können Persönlichkeitstests bieten, von denen viele kostenlos online zur Verfügung stehen. Auch das Feedback von Menschen, die einen gut kennen, womöglich auch in unterschiedlichen Situationen, sollte man ernst nehmen und im Zweifelsfall explizit darum bitten.
Offenheit gleich Authentizität?
Mitunter wird Authentizität mit Offenheit verwechselt, einem der fünf Faktoren im Big-5-Persönlichkeitsmodell. Die überwiegend extravertierte Gesellschaft bevorzugt Individuen, die leicht in Kontakt zu anderen treten und sich im passenden Kontext schnell öffnen. Menschen, die eher vorsichtig agieren, denen man ihre Gefühle nicht anmerkt und die zudem nicht willens scheinen, anders als sachlich über emotionale Themen zu sprechen, werden schnell als suspekt wahrgenommen. Man argwöhnt, wir seien gefühlskalt, verbergen etwas, verstellen uns. Dabei sind wir gerade in unserer Zurückhaltung authentisch. Unsere Introversion ist ein unveränderliches Wesensmerkmal. Wir würden uns verstellen, wenn wir versuchten, uns leutselig und offen zu geben. Authentizität ist demnach nicht dasselbe wie Offenheit.
Authentizität und Egoismus
Gesellschaftliche Normen sind nichts durchweg Negatives. Vielmehr dienen sie als sicherer Rahmen für das Verhalten in verschiedenen sozialen Situationen. Je nach Kultur unterscheiden sich diese teilweise gravierend voneinander. Als Kind wächst man in das jeweilige Muster hinein und übernimmt es mehr oder weniger intuitiv. Für Menschen im oder nahe am autistischen Spektrum funktioniert das nicht so reibungslos. Wir müssen uns über den Verstand erschließen, was die meisten Neurotypischen von selbst und nebenbei lernen. Blickkontakt und Höflichkeitsfloskeln wie Grüßen und „Bitte“ und „Danke“ zu sagen dienen dazu, das Zusammenleben konfliktarm zu gestalten. Kein Wunder, dass Autisten so oft anecken. Vielen sind diese „sozialen Schmiermittel“ unangenehm, sie vergessen sie oder sehen keinen Sinn darin. Das wirkt schnell unfreundlich oder egoistisch.
Zwischen Authentizität und Egoismus besteht ein Unterschied. Zu den eigenen Bedürfnissen zu stehen, heißt nicht, die der anderen komplett zu ignorieren. Natürlich gibt es Egoisten, Sozio- und Psychopathen, die ausschließlich das eigene Ego sehen und andere Menschen als Mittel zum Zweck benutzen. Von denen ist hier aber nicht die Rede.
Kompromissbereitschaft
Individuelle Unterschiede, Gewohnheiten und Vorlieben setzen ein Mindestmaß an Höflichkeit und Kompromissbereitschaft voraus, um miteinander auszukommen. Das betrifft jeden Bereich des täglichen Lebens. Wie sieht es nun im Speziellen aus im Privatleben, dem Bereich, in dem man sich so frei und unverstellt wie nirgends sonst fühlen möchte?
Es gilt: Je enger eine Beziehung, desto mehr müssen alle Beteiligten willens sein, sich zu einigen und eigene Wünsche ein Stück weit zurückzustellen zugunsten einer für alle Seiten befriedigenden Lösung. „Eng“ meint hier sowohl emotionale als auch räumliche Nähe. Sobald auch nur einer der beiden Faktoren erfüllt ist, steigt die Notwendigkeit der Kompromissbereitschaft gravierend an. Extrembeispiele wären eine Zweck-WG (räumliche ohne emotionale Nähe) bzw. eine Fernbeziehung (emotionale ohne räumliche Nähe). Meist kommt allerdings beides zusammen, mehr oder weniger stark ausgeprägt.
Insbesondere eine partnerschaftliche Beziehung mit gemeinsamer Wohnung fordert ein Höchstmaß an Kompromissbereitschaft – von beiden. Oft genug gibt einer der Partner „um des lieben Frieden willens“ nach. Geschieht das regelmäßig, setzt dieses Verhaltensmuster eine unglückliche Entwicklung in Gang. Es wird zur Routine, sodass der eine von vornherein erwartet, der andere würde schon nachgeben. Doch auch wenn es sich um Kleinigkeiten handelt, summieren sich diese und die Unzufriedenheit des Nachgebenden steigt. Bis sich der aufgestaute Frust irgendwann entlädt, oft aus einer Nichtigkeit heraus. Beiden Partnern ist häufig nicht einmal klar, warum einer der beiden derart „explodiert“, weil sie den langandauernden Prozess im Vorfeld nicht sehen. Nicht nur bei den großen Lebensfragen ist es daher wichtig, gemeinschaftlich zu einer Entscheidung zu gelangen (selbst dann, wenn ein Partner über eine Expertise verfügt, die dem anderen abgeht), auch im Kleinen. Natürlich muss nicht jede Alltäglichkeit ausdiskutiert werden – auch das kann nerven, wenn einer der Partner das Gefühl entwickelt, der andere sei unfähig, irgendetwas selbst zu entscheiden. Oft entwickeln sich Zuständigkeiten für bestimmten Lebensbereiche, was zeit- und nervensparend ist. Aber auch die gilt es hin und wieder zu hinterfragen. Einseitig verteilte Verantwortung, Kompromissbereitschaft und Entscheidungsgewalt unterhöhlen auf lange Sicht die Beziehung und machen aus einem Verhältnis auf Augenhöhe eines in Abhängigkeit.
Während eine Freundschaft auch sehr unterschiedliche Vorlieben und Gewohnheiten (in gewissem Rahmen) toleriert – man sieht sich schließlich nicht mehr oder weniger rund um die Uhr –, stellen voneinander abweichende Lebensweisen und -einstellungen eine Partnerschaft vor Herausforderungen. Dabei kann es sich um Vorlieben wie die Einrichtung der Wohnung und das individuelle Bedürfnis nach Ordnung und Sauberkeit handeln, ebenso um persönliche Neigungen, z. B. ob man Lerche oder Langschläfer ist, gerne exotisch speist oder Hausmannskost bevorzugt.
Auch das Bedürfnis nach persönlichem Freiraum, nach Zeit, die ein Partner entweder mit Freunden, Hobbys oder für sich allein braucht, ist nicht zu unterschätzen. In gemischt extravertiert – introvertierten Beziehungen bietet das unterschiedliche Bedürfnis nach Gesellschaft und Alleinsein Konfliktpotenzial. Entgegen dem Spruch „Gegensätze ziehen sich an“ gilt als erwiesen, dass Beziehungen von Partnern, die sich in wesentlichen Punkten ähnlich sind, länger halten und zufriedenstellender sind (https://www.psychologie.ch/gleich-und-gleich-gesellt-sich-gern). Trotzdem kann es gut gehen, sofern die Kommunikation zwischen den Partnern stimmt und ausreichend Verbindendes da ist. Toleranz und Vertrauen vorausgesetzt, stillt der Extravertierte sein Bedürfnis nach Gesellschaft, indem er auch mal allein auf eine Party geht, während sein introvertierter Partner einen Abend zu Hause mit einem guten Buch genießt.
Zusammenfassung:
- Authentizität ist mehr als ein Schlagwort. Sie ist Voraussetzung für ein gutes, zufriedenes Leben.
- Authentisch zu sein ist nicht gleichbedeutend mit impulsgesteuerter Aktion und Reaktion, sondern beinhaltet reflektiertes Verhalten gemäß den eigenen Überzeugungen.
- Soziale Rollen sind nicht grundsätzlich un-authentisch.
- Die Anpassung an eine soziale Rolle darf nicht zur Selbstaufgabe führen.
- Manche Menschen haben es schwerer, sich authentisch zu verhalten, weil ihre Art zu sein wenig anerkannt ist, z. B. stark Introvertierte.
- Offenheit gegenüber Eindrücken und Menschen ist ein Wesensmerkmal und nicht Voraussetzung für Authentizität.
- Authentizität ist nicht dasselbe wie Egoismus, weil sie Rücksichtnahme nicht ausschließt.
- Um authentisch zu sein, muss man den Weg der Selbsterkenntnis beschreiten und akzeptieren, dass es nicht das eine, unveränderliche Ich gibt.
- Je enger eine Beziehung, desto mehr gegenseitige Rücksichtnahme ist gefordert. Kommunikation und Wissen um die eigenen Bedürfnisse sind notwendig, um trotz Kompromissen authentisch zu leben.
Quellen:
- Stangl, W. (2022, 12. August): Authentizität, in: Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik
- Rolf Dobelli: Die Kunst des guten Lebens: 52 überraschende Wege zum Glück, München 2017
- Linus Jonkman: Introvertiert – Die leise Revolution, Mannheim 2021
Bild: geralt on Pixabay (bearbeitet)