Bahngleise

URLAUB – NEIN DANKE

„Ich verreise nicht.“

Auf diese Aussage folgt für gewöhnlich sekundenlanges Schweigen, währenddessen man förmlich sehen kann, wie es im Kopf des Gegenübers rattert. Irgendwann dann die Frage: „Wie, du verreist nicht?“

Meine Antwort lautet immer ähnlich: „Ich bleibe lieber zu Hause. Urlaub, sprich Erholung, findet für mich immer dann statt, wenn ich Ruhe und Zeit für mich und meine Interessen und Projekte habe und ansonsten alles in gewohnten Bahnen läuft.“ Mein letzter Urlaub – der einzige seit dem in Kinder- und Jugendzeit mit meinen Eltern verbrachten – war vor 31 Jahren, eine Handvoll Tagesausflüge und Besuche von Musikfestivals ausgenommen.

Wohin man wann und mit wem in Urlaub fährt, gehört zu den beliebtesten Themen für Small Talk. Jedem fällt etwas dazu ein, und selbst wenn man ausnahmsweise mal zu Hause bleibt wie während der Covid-19-Pandemie, lässt sich immer noch über vergangene oder für die Zukunft geplante Urlaube reden. Nicht verreisen zu können oder zu dürfen, empfinden viele Menschen als Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit. Ein- bis zweimal Urlaub im Jahr, um sich vom stressigen Berufs- und sonstigen Alltag zu erholen – spontan oder Monate im Voraus geplant –, muss einfach „drin“ sein. Je nach Geldbeutel in exotische Länder mit Luxushotel oder rustikal-familiär auf dem Campingplatz von Klein-Kleckersdorf. Wer nicht verreist, würde gerne, kann aber nicht, aufgrund von Geld- oder Zeitmangel. Aus diesem Grund stößt die Aussage, man bleibe freiwillig zu Hause, fast immer auf Unverständnis.

Warum verzichten Menschen auf Urlaubsfahrten?

  • Finanzielle Gründe: Urlaub zu machen kann teuer sein. Wer im Niedriglohnsektor seine Brötchen verdient oder erwerbslos ist, kann sich eine teure Freizeitgestaltung nicht leisten, das gilt erst recht für Urlaubsreisen.
  • Verpflichtungen: Wer kranke, behinderte oder hochbetagte Angehörige pflegt, erlaubt es sich oft aus Pflichtgefühl nicht, in Urlaub zu fahren. Dabei hätten gerade Pflegende eine Auszeit, in der sie sich ausschließlich um sich kümmern können, dringend nötig. Auch Haustiere, die man nicht allein lassen kann oder in fremde Hände geben möchte, können ein Grund dafür sein, zu Hause zu bleiben.
  • Zeitliche Gründe: Sind oft verschränkt mit dem vorherigen Punkt. Darüber hinaus trifft es oft Selbstständige: Wer gerade sein Business aufbaut, nutzt dafür jede freie Minute. Verantwortung zeitweilig an Mitarbeiter abzugeben (sofern vorhanden), fällt ebenfalls nicht immer leicht. Hier liegt es an jedem selbst, sich Auszeiten zu gönnen, in Form von regelmäßigen Pausen, aber auch zusammenhängenden Erholungstagen – andernfalls ist der Burn-out über kurz oder lang vorprogrammiert.
  • Umweltbewusstsein: In Anbetracht der Auswirkungen des Klimawandels entscheidet sich mancher gegen das Reisen. Insbesondere die Emissionen durch Flugzeuge und Kreuzfahrtschiffe tragen – neben dem Individualverkehr – erheblich zur Erderwärmung bei. Ein sinnvoller Kompromiss kann sein, nur auf bestimmte Arten von Urlaub zu verzichten. Reiseziele wählen, die mit der Bahn zu erreichen sind, Fernreisen meiden, keine Kurzstreckenflüge und Kurztrips per Flieger unternehmen, um die wichtigsten Punkte zu nennen.
  • Gesundheitliche Einschränkungen: Chronische Krankheiten und Behinderungen können Urlaubsreisen erschweren oder komplett unmöglich machen. Auch Autismus gehört in diese Kategorie. Auf die Gründe, warum verreisen für Autisten anstrengend ist, gehe ich unten ein.
  • Angst vor dem Reisen: Es muss nicht immer eine ausgewachsene Hodophobie (Reiseangst) sein, die Menschen davon abhält, ihre Koffer zu packen und in Bus, Bahn oder Flugzeug zu steigen. Häufig sind es Teilaspekte des Verreisens, die statt Vorfreude Angst aufkommen lassen, obwohl man gerne wegführe: Aviophobie (Angst vor dem Fliegen) oder Emetophobie (Angst vor dem Erbrechen wegen einer vorhandenen Reisekrankheit) können dazu führen, dass manche Menschen sich derart unwohl beim Reisen oder dem Gedanken daran fühlen, dass sie darauf verzichten. Generalisierte Angststörungen oder soziale Ängste, z. B. sich aus Unkenntnis der Sprache und der im Urlaubsland herrschenden Gepflogenheiten zu blamieren, sind weitere Gründe, warum manche Menschen es vorziehen, zu Hause zu bleiben. Um diesen Ängsten beizukommen, gibt es verschiedene Tipps und Tricks, die man auf eigene Faust umsetzen kann. Wenn das nicht ausreicht, kann eine Verhaltenstherapie den erhofften Erfolg bringen.

Warum haben viele Autisten mit dem Verreisen Probleme?

Vorweg: Nicht alle Autisten tun sich schwer mit dem Reisen. Viele Autisten genießen Urlaubsfahrten sogar, insbesondere wenn die Reise ihr Spezialinteresse berührt, klassisches Beispiel: Eisenbahn und Fahrpläne. Die Gründe, warum man als Mensch im autistischen Spektrum auf Urlaub verzichtet, können ebenso vielfältig sein wie bei Nichtautisten. Dennoch spielen bei Autistinnen und Autisten oft andere Ursachen eine Rolle als bei Neurotypischen, die dazu führen, dass sie ihre Koffer lieber im Schrank (Dachboden, Keller etc.) lassen.

Mögliche Gründe, warum sich Autisten gegen das Reisen entscheiden, sind:

  1. Veränderte Routinen: Die meisten Autisten schätzen Routinen und Vorhersehbarkeit. Eine Reise bedeutet, liebgewonnene Gewohnheiten für eine Weile aufgeben zu müssen. Das kann zu erheblichen Problemen führen, denn Routinen gliedern als stabiles Raster den Tagesablauf und bilden die Grundlage, auf der eine autistische Person „funktioniert“, sprich handlungsfähig bleibt.
  2. Fehlende Flexibilität: Selbst ein straff durchorganisierter Urlaub wird nie den Grad von Vorhersehbarkeit erreichen, den man von zu Hause gewohnt ist. Autisten meiden Situationen, die spontanes Entscheiden und Handeln erfordern, was in fremder Umgebung aber nicht immer möglich ist.
  3. Sensorische Überlastung: Autisten reagieren oft überdurchschnittlich empfindlich auf sensorische Reize wie Lärm, Gerüche, Helligkeit oder Bewegungen. Reisen kann bedeuten, sich einer Fülle von neuen Reizen auszusetzen, die unangenehm bis überwältigend sein können. Der sensorische Overload kann in einem Shutdown oder Meltdown enden.
  4. Soziale Überforderung: Soziale Situationen stellen für Autisten eine besondere Herausforderung dar. Das gilt umso mehr für zwischenmenschliche Begegnungen in neuen und ungewohnten Umgebungen, was beim Verreisen zwangsläufig der Fall ist. Es sei denn, man wählt immer denselben Urlaubsort – aber auch dieser kann sich seit dem letzten Mal verändert haben. Zudem sind die anderen Gäste selten dieselben.
  5. Unsicherheit und Angst: Hier spielt die soziale Unsicherheit mit hinein, an der viele Autisten leiden, sowie ebenfalls häufig komorbide Ängste. Ungewohnte Situationen und fremde Umgebungen verstärken diese Gefühle noch.
  6. Schwierigkeiten bei der Anpassung an neue Umgebungen: Hängt eng mit den Punkten 1 und 2 zusammen. Es kann schwierig und belastend sein, wenn das gewohnte Essen und das eigene Bett wegfallen, wenn Klima oder Schlafenszeiten sich ändern. Gerade in puncto Ernährung haben Autisten oft sehr spezielle Vorlieben und Abneigungen.

Ein Teil der Gründe trifft auch auf hochsensible und introvertierte Menschen zu. Extravertierte Personen ohne besondere Empfindlichkeiten oder Ängste werden eine Urlaubsreise dagegen deutlich unbelasteter und offener antreten.

Was hilft (nicht nur) Autisten gegen Reiseangst?

  • Gründliche Vorbereitung: Natürlich kann man nicht alle Eventualtäten vorwegnehmen. Aber sich rechtzeitig im Vorfeld Gedanken und evtl. Listen über die Abläufe am Flughafen zu machen, Straßenkarten des Urlaubsortes und Fotos des Hotels zu studieren (wo ist das hoteleigene Restaurant, wo der Pool, wie ist der kürzeste Weg zum Strand usw.) nimmt einen Teil der Unsicherheit. Vor der Buchung überlegen, ob die angebotene Art Urlaub auch wirklich zu einem passt, und sich nicht von Freunden oder Familie zum Städtehopping überreden lassen, wenn man einen ganzen Tag braucht, um innerlich „anzukommen“.
  • Wie schon oben angeklungen, kann es hilfreich sein, wenn der Urlaub im Zusammenhang mit dem eigenen Spezialinteresse steht. Sich darauf als Fixpunkt zu konzentrieren, lässt die Unannehmlichkeiten, zumindest vorübergehend, in den Hintergrund treten.
  • Akzeptanz: Da die gewohnte Tagesstruktur nun mal wegfällt, hilft vielleicht der Gedanke, diese Veränderung als unumgänglich zu akzeptieren, vielleicht sogar als Chance für die eigene Entwicklung zu sehen. Ebenso wichtig ist es, sich bewusst zu machen, dass eine Urlaubsreise nicht nur schöne Augenblicke bereithält, sondern fast immer auch mit Stress und Aufregung verbunden ist, zumindest punktuell. Das kann den Erwartungsdruck mildern, alles müsse perfekt sein.
  • Wenn es irgendwie möglich ist, sollte man sich für die Dauer des Aufenthalts am Ferienort neue Routinen schaffen.
  • Vertraute Gegenstände: Das fremde Hotelbett wird durch das eigene Kissen oder Kuscheltier gleich ein wenig heimeliger.
  • Hilfsmittel nutzen: Was einem zu Hause hilft, sollte unbedingt auch mit in den Urlaub. Ohrenstöpsel, Noise-Cancelling-Kopfhörer, Sonnenbrillen, Caps, Stimmung-Tools, Notfallkärtchen und ein Notfallkoffer mit z. B. scharfen Kaubonbons, Geruchssäckchen, Igelball etc. lenken die Aufmerksamkeit auf den eigenen Körper und können so einen drohenden Overload verhindern. Die Hilfen sollten sich zu Hause bereits bewährt haben.
  • Warnzeichen erkennen und Selbstfürsorge: Im Urlaub kann es schneller zum Overload kommen als bei vergleichbaren Situationen in gewohnter Umgebung (evtl. kann es aber auch umgekehrt sein). Es lohnt sich, ein Gespür dafür zu entwickeln, wann die persönliche Belastungsgrenze erreicht ist, und sich dann z. B. ins Zimmer zurückzuziehen. Von vornherein den Mitreisenden gegenüber klarstellen, dass es hierüber nichts zu diskutieren gibt.
  • Nicht allein reisen: Für schwer Betroffene ohnehin nicht möglich. Aber auch hochfunktionalen Autisten hilft es, Freund, Lebenspartner oder Verwandte an der Seite zu haben, die im Notfall die Führung übernehmen. Allerdings kann ein nahestehender Mitreisender auch eine zusätzliche Belastung darstellen, da man sich nicht nur an die veränderte Umgebung anpassen muss, sondern auch den Wünschen dieser Person. Wer niemanden zum Mitreisen hat, kann eine Reise für Autisten buchen, wie sie einige Reiseunternehmen anbieten.

Hast du weitere Tipps, die Autisten, Introvertierten und Hochsensiblen helfen können, stressfreier zu verreisen? Schreib sie gern als Kommentar.

Exkurs: Urlaub ist gleich Verreisen, oder?

Im landläufigen Sprachgebrauch wird „Urlaub“ synonym zu „Ferien machen“, „Verreisen“ oder „Wegfahren“ verwendet, obwohl es sich genau genommen um verschiedene Dinge handelt. Mir der Bezeichnung „Urlaub“ ist meist der sogenannte Erholungsurlaub gemeint. Nach dem Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) vom 8.1.1963 eine „bezahlte Freizeit, die der Wiederherstellung und Erhaltung der Arbeitskraft des Arbeitnehmers dienen soll“. Andere Formen von Urlaub sind Elternzeit, Bildungs- und unbezahlter Urlaub.

Ferien bezeichnen eine „turnusmäßig wiederkehrende, zusammenhängende, arbeitsfreie Zeit, während der man sich der Erholung widmet, besonders von Schule, Universität, Gericht, Parlament“. Als zweite Bedeutung gibt das digitale Wörterbuch der deutschen Sprache „Urlaub“ an.

(Ver-)reisen hingegen bedeutet, für eine bestimmte Zeit seinen Wohnort zu verlassen und eine anderweitige Unterkunft zu beziehen. Reisen ohne das Präfix weg- betont den Vorgang der Fortbewegung von einem Ort zum anderen, sei es zu Wasser, zu Lande oder in der Luft, mit motorischen Hilfsmitteln oder ohne, während Verreisen mehr den gesamten Vorgang meint.

Nach dieser etwas trockenen Begriffserklärung verrate ich euch jetzt noch meine persönlichen Beweggründe, daheim zu bleiben:

Warum ich nicht verreise

Reisen bedeutet für mich in erster Linie Stress. Wie alle anderen Vorhaben auch, muss ich eine Reise gründlich – und damit meine ich tatsächlich sehr gründlich, bis ins kleinste Detail – planen. Wochen vorher erstelle ich Listen für alle Gegenstände, die ich mitnehmen muss, unterteilt in Dinge, die ich während der Reise benötige, während des Aufenthalts, alles wiederum gesplittet in Kleidung, Medikamente/Nahrungsergänzungsmittel, Utensilien fürs Bad (der berühmte „Kulturbeutel“ – weshalb heißt der eigentlich so, wo er mit Kultur im üblichen Sinn nichts zu tun hat? Hier die Antwort), Sachen für den Notfall, Bücher etc.

Unklare Abläufe versuche ich so gut, wie es mir aufgrund der zur Verfügung stehenden Informationen möglich ist, zu antizipieren, um für jede Situation gewappnet zu sein. Auch was schiefgehen kann, beziehe ich in die Überlegungen mit ein, nach dem Motto: So schlimm, wie man es sich vorstellt, trifft es selten ein. Trotzdem ist das Ausmalen von Worst-Case-Szenarien der Vorfreude nicht unbedingt förderlich.

Ein riesiges Problem stellt für mich die angebotene Essensauswahl am Zielort dar. Zum einen esse ich nur innerhalb eines bestimmten Zeitfensters, zum anderen nur bestimmte Dinge, da ich unter einigen Nahrungsmittelunverträglichkeiten leide. Hinzu kommt, dass es mir aufgrund meiner Misophonie kaum möglich ist, gemeinsam mit anderen Menschen zu speisen. Das Geklapper mit Besteck auf Porzellan, die Essgeräusche und nicht zuletzt die selten leise geführten Unterhaltungen anderer Gäste verleiden mir jeden Genuss, sodass ich im Zweifelsfall hungrig bleibe – keine gute Idee bei Untergewicht.

Das in vielen Restaurants angebotene Buffett überfordert mich aufgrund der Menge an Auswahlmöglichkeiten. Bis ich die Handvoll Nahrungsmittel gefunden habe, die ich kenne und vertrage, brauche ich gefühlte Stunden. Dann die ständige Nähe anderer Personen, die vielleicht noch genervt reagieren, weil ich irgendwo rum- und im Weg stehe und mich nicht entscheiden kann. Stress entsteht, ich beginne zu schwitzen, zu zittern und kann nicht mehr klar denken, was die Suche nach geeigneter Nahrung weiter erschwert.

Da ich das erste und einzige Mal vor Urzeiten verreist bin (siehe oben), sind mir die Abläufe am Flughafen oder beim Einchecken im Hotel fremd. In Urlaub zu fliegen, beabsichtige ich zwar nicht, aber für eine Lesung, die ich bald halten werde, bin ich gezwungen, mich mit der Hotelfrage auseinanderzusetzen, da die Distanz eine Übernachtung unumgänglich macht. Allein dass ich nicht weiß, was da an ungewohnten Abläufen auf mich zukommt, macht mich extrem nervös. Als stark introvertierte, teils hochsensible Asperger-Autistin trete ich selten in der Öffentlichkeit auf, und die daraus resultierende Unsicherheit kann keine noch so sorgfältige Vorbereitung wegwischen. Alles in allem eine mächtige Herausforderung, der ich mich aber stellen möchte, nachdem ich lange das Für und Wider abgewogen habe. Eventuell werde ich meine Erfahrungen in einem Blogbeitrag zusammenfassen.

In meinem Fall kommen eine Reihe der oben aufgelisteten Gründe für das Nicht-Verreisen zusammen (außerdem noch ein paar private, die ich hier jedoch außen vor lassen möchte). Ich erhole mich am besten allein, in Ruhe und gewohnter Umgebung, beschäftigt mit den Dingen, die ich gern tue. Sollte sich an meiner Haltung zum Urlaub machen je etwas ändern, würde ich bei meiner Planung, wohin die Reise gehen soll, die zusammengetragenen Hilfen beachten und bei der Wahl von Zielort und Reiseart den Umweltaspekt berücksichtigen.

Quellen

https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/urlaub-50717

https://www.dwds.de/wb/Ferien

https://www.angstselbsthilfe.de/daz.digital/reisen-lernen/

Bild von Leopictures auf Pixabay

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