anderseitig – unverstellt anders
Blog für Menschen, die anders ticken
Manche Menschen unterscheiden sich von der Mehrheit. Sie nehmen anders wahr, denken und fühlen anders. Weil sie introvertiert oder hochsensibel sind oder beides. Weil sie autistische Züge besitzen oder das Asperger-Syndrom haben. Weil ihre Eigenschaften und Persönlichkeitsmerkmale in der lauten, hektischen, auf das Außen gerichteten Welt als Schwächen gelten, die sie teils schamhaft zu verbergen suchen. Daher sind sie oft ungewollt Einzelgänger und Außenseiter.
Viele von uns „Andersmenschen“ legen sich einen Avatar, ein Art zweites Ich zu, um nicht aufzufallen, um anerkannt und gemocht zu werden. Eine Zeitlang klappt das für gewöhnlich, mal mehr, mal weniger.
Ich bin der Meinung, niemand sollte sich bis zur Selbstverleugnung an die Gesellschaft anpassen müssen, um akzeptiert zu werden. Darüber hinaus ist es nahezu ausgeschlossen, ein zufriedenes Leben zu führen, wenn du dich permanent verstellst (oder glaubst es tun zu müssen), weil du dich im Vergleich mit anderen für unzulänglich hältst. Was schnell der Fall ist, wenn du keine Standard-Biografie vorzuweisen hast, sondern der eigene Lebenslauf aussieht wie ein altes T-Shirt, über das mehrere Generationen Motten hergefallen sind. Wenn Karriere für dich ein Fremdwort ist, du in keinen Freundeskreis integriert bist und in Small-Talk-Situationen durch Schweigen brillierst. Oder mit allgemein als schräg angesehenen Hobbys Negativpunkte sammelst. Was natürlich immer auf den Gesprächspartner ankommt. Wenn dein Gegenüber ebenfalls an Forensischer Entomologie interessiert ist, wird es ihn nicht stören, beim Essen über die Puppenstadien von Insekten auf einem Leichnam zu fachsimpeln. Zugegeben ein extremes Beispiel, gewählt, um zu verdeutlichen: Menschen, die viel mit sich und ihren Interessen beschäftigt sind, fällt es oftmals schwer, sich oberflächlich über Alltägliches auszutauschen. Sie neigen dazu, entweder zu schweigen oder sich ausführlich über ihre Themen auszulassen, wobei sie die Wirkung auf den Zuhörer mitunter vergessen.
„Vergleich dich nicht mit anderen!“ ist schnell gesagt oder geschrieben. Wenn es so einfach wäre! Vielleicht ist es das sogar – für Menschen, deren Leben im Kern nicht allzu sehr von dem der Mehrheit abweicht. Tut es das aber, kann es sinnvoll sein, der Tatsache einmal bewusst und ungeschönt ins Gesicht sehen, dass es grundlegende Unterschiede gibt. Die Erkenntnis befreit ungemein, weil sie es hinfällig macht, andere Leute als Maßstab fürs eigene Leben zu nehmen. Heißt: Man muss zuerst vergleichen, um den Vergleich abzuschaffen. Einer Krähe wirft auch niemand ihren unmelodiösen Ruf vor mit dem Hinweis, Nachtigallen sängen prächtig und das seien schließlich auch Vögel (übrigens, ich mag Krähen und andere Rabenvögel).
Selbsterkenntnis ist die Voraussetzung für Selbstannahme und -achtung. Meist ist es ein langer Weg bis dahin. Leider scheitern viele Andersmenschen daran, sich ihre abweichende Art des Seins überhaupt einzugestehen. Wohlmeinende Mitmenschen fördern die Mär von der Egalität mit Floskeln wie „Ach, jeder ist doch ein bisschen anders“, „Ja, ja, das kenne ich“ und dergleichen mehr.
Dieser Blog soll dazu beitragen, mehr über die Hintergründe deines Andersseins zu erfahren. Anhand meiner eigenen Geschichte möchte ich dir Hilfestellung dabei geben, nicht in die Selbstverleugnungsfalle zu tappen, Alltagshürden zu bewältigen und weniger angepasst, dafür aber zufriedener zu leben.
Über mich:
Das Thema Anderssein beschäftigt mich, seit ich denken kann. Die Mädchen und Jungen im Kindergarten fand ich größtenteils seltsam, weil sie Dinge taten, die mich kein bisschen interessierten. Schreiend herumlaufen beispielsweise oder Vater-Mutter-Kind spielen. Selten scherte sich jemand um das, was ich toll fand, wie dazusitzen und Insekten zu beobachten.
Erst im Verlauf der Pubertät ging mir auf, dass keineswegs alle anderen merkwürdig waren – was ja auch ziemlich unlogisch gewesen wäre –, sondern ich selbst. Diese Erkenntnis setzte einen gigantischen Anpassungsprozess in Gang mit dem Ziel, möglichst zu sein wie alle. Mit mäßigem Erfolg. So richtig hinein passte ich in keine Gruppe der Teenie-Mädchen. Erst in der Gothic-Szene, die damals noch nicht so hieß, erfuhr ich Akzeptanz und eine gewisse Zugehörigkeit. Dort herrschte deutlich mehr Toleranz als unter „Normalos“, wenngleich auch Subkulturen keineswegs frei sind von Konformitätsdruck.
Mit wachsender Lebenserfahrung lernte ich, Defizite im Umgang mit anderen zu kaschieren, tat ich mich jedoch weiterhin schwer damit. Über Jahrzehnte begleitete mich die Frage, warum mich oberflächliche Gespräche, ja, das bloße Unter-Menschen-Sein dermaßen anstrengten. Warum mir Aktivitäten, die für die meisten Leute nicht der Rede wert sind oder sogar Spaß machen, unmöglich sind oder nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich.
Auch beruflich lief es nicht gut. Eine Ausbildung im sozialen Bereich und später eine Umschulung in einen Beruf, in dem ebenfalls soziale Kompetenz und außerdem Multitasking (für mich die komplette Überforderung) gefragt sind, zeugen von erschreckend geringer Selbstreflexion. Ich brachte das zweifelhafte Kunststück zuwege, meine Schwächen, Stärken und Bedürfnisse, meine komplette Persönlichkeit, über Jahrzehnte zu ignorieren. Zulasten meiner Gesundheit (Essstörungen und anderes), aber auch das verdrängte ich. Die von mir als Schwäche empfundenen Probleme verbarg ich nach außen hin erfolgreich. Mein Unterbewusstsein ging davon aus, die Art, wie ich mich durchs Leben quälte, wäre normal und vermutlich empfänden die meisten Menschen ähnlich. Kurz vor dem Magister-Abschluss und trotz sehr guter Zwischenprüfung musste ich mein Studium (Sozialpsychologie und Geschichte) nach 13 Semestern abbrechen. Aus finanziellen Gründen und aufgrund einer privaten Krise, die auch mit meinen autistischen Eigenschaften zusammenhing. Heute denke ich, damals begann ich zu begreifen, dass es so nicht länger weitergehen konnte.
2019 stellte mir ein auf Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter spezialisierter Psychiater die Diagnose „Asperger-Syndrom“. In der Folge überprüfte ich mein bisheriges Leben unter diesem neuen Aspekt und fand mit einem Mal eine Erklärung für viele Dinge, die ich bisher auf persönliches Unvermögen schob. Ich begriff, warum gängige Methoden wie die Gewöhnung an problematische Situationen keinen Effekt erzielten, warum ähnliche Fehler mir immer wieder unterliefen. Mein Scheitern beruhte nicht darauf, dass ich mich nicht genug anstrengte, sondern auf einer Andersverdrahtung meines Gehirns. Ich bin nicht gemacht für die Art Leben, das die Mehrzahl der Menschen führt. Weder interessiert es mich noch tut es mir gut.
Seither habe ich meinen Alltag Stück für Stück verändert und an meine Bedürfnisse angepasst. Dazu gehörte auch, den Gedanken loszulassen, in einem regulären Beruf arbeiten zu können. Ich tue das, was ich kann und was sich für mich richtig anfühlt: schreiben. Romane, Kurzgeschichten und nun auch Blogbeiträge. Über das Anderssein. Nicht nur als Asperger-Autistin, sondern auch als Introvertierte und in manchen Bereichen Hochsensible.
Seit dieser Umstellung weiß ich endlich, was der Begriff „Lebenszufriedenheit“ bedeutet, nachdem ich lange Zeit überwiegend funktioniert habe. Selbsterkenntnis und Persönlichkeitsentwicklung sind fortlaufende Prozesse, nahezu täglich lerne ich Neues hinzu. Ich freue mich, wenn du mich auf diesem Weg ein Stück begleitest, indem du diesen Blog liest.
Da ich erst im November 2021 mit bloggen angefangen habe (und mich eine Weile nicht dazu durchringen konnte, den Wartungsmodus auszuschalten), ist die Zahl der Beiträge überschaubar, aber es werden sich weitere hinzugesellen. Ich würde mich freuen, wenn du durch die eine oder andere Rückmeldung dazu beiträgst, den Blog zum Leben zu erwecken. Das müssen keine seitenlangen Kommentare sein (dürfen es natürlich 😉), auch ein kleines Lob oder kritische, sachlich formulierte Anmerkungen sind willkommen. Fragen beantworte ich gern, sofern sie private Grenzen respektieren.
Über die Autorin Julia A. Jorges:
Von Kindheit an gilt meine Liebe der Dunklen Fantastik, auch Übernatürlicher Horror oder Weird Fiction genannt, insbesondere den Werken aus der Zeit um 1900. Ein sehr bekanntes, von der Popkultur auf teils peinliche Weise vereinnahmtes Beispiel: Howard Phillips Lovecraft. Zu den eher Insidern bekannten Autoren des Düsteren zählen u. a. Arthur Machen und Clark Ashton Smith. Zudem ziehen mich ungewöhnliche Charaktere an. Mit „Menschen wie du und ich“ kann ich nichts anfangen.
Seit 2015 schreibe ich eigene Geschichten, in denen das Seltsame und Unheimliche mal deutlich, mal eher unterschwellig zutage tritt. Thema vieler meiner Kurzgeschichten sind die sogenannten menschlichen Abgründe, jedoch nicht im Sinne blutrünstiger Psychopathen-Storys. Ich möchte das Irrationale, die vermeintlich oder tatsächlich krankhaften Anteile menschlichen Seelenlebens differenziert und realistisch darstellen, ohne Klischees zu bedienen. Träume und Wahnvorstellungen sowie Unerklärliches verschmelzen miteinander mit dem Ziel, die Grenzen der Wirklichkeit aufzuweichen.
In meiner aktuellen Kurzgeschichte „Im Bus“ (enthalten in Zwielicht, das deutsche Horrormagazin, Band 16) findet ein Mobbingopfer neben Rache endlich seinen Platz in der Welt, freilich einen sehr speziellen. Mein ökologischer Mystery-Thriller Glutsommer erscheint im Mai ’22 im BLITZ-Verlag (Vorbestellung bereits jetzt über den Verlag möglich). Auch hier sind die eigentlichen Hauptfiguren – diejenigen, die wirklich etwas bewegen – Außenseiter. Verschrobene Gestalten, die mit einem oder sogar beiden Füßen außerhalb der Gesellschaft stehen und das in mehr als nur einer Hinsicht.
Mehr zu meiner schriftstellerischen Tätigkeit sowie Leseproben auf meiner Autorenseite: https://juliaanninajorges.de
Bilder: chenspec auf Pixabay (oben), Autorenfoto von S. Skupiewska, pixyfoto Braunschweig