Buchstaben AUTISM

WIE AUTISMUS ZUR MODEDIAGNOSE WURDE

Dieser Artikel geht der Frage nach, warum für eine wachsende Anzahl von Menschen die psychiatrische Diagnose Autismus als Identifikationsmerkmal dient und wie das Ganze mit der Mainstream-Kultur zusammenhängt.

Das Mainstream-Monster

Der Massengeschmack (Mainstream, eigentlich „Hauptströmung“) ist ein gieriges Monster, unersättlich in seinem Appetit auf das Neue, Ausgefallene, das er sich einverleibt, um seine naturgemäße Durchschnittlichkeit für eine Weile zu vergessen. Lässt man ihm ausreichend Zeit, vereinnahmt er alles, (nahezu) jede subkulturelle Strömung, jeden neuen, anfangs „unerhörten“ Denkansatz. Philosophie, Musik, Literatur, Mode – alles findet seinen Weg in den gigantischen Verdauungsapparat der Mainstream-Maschinerie. Vermischt mit Vorhandenem, ordentlich durchgeknetet und dadurch unbekömmlicher Schärfe oder Bitterkeit beraubt, kommt am anderen Ende wohlgefälliger Brei heraus. Ein klein wenig schräg, aber nicht zu sehr, genau richtig, um einen neuen Trend für die breite Masse zu bedienen.

Massengeschmack kontra Individualität

Kurz und bündig bezeichnet der Duden den Mainstream als „vorherrschende gesellschaftspolitische, kulturelle o. ä. Richtung“, im Gebrauch „oft abwertend“ verwendet. Als Beispiel folgt dann auch entsprechend „sich vom Mainstream absetzen“.

Die Definition des Dudens weist direkt auf das große Problem jeder Massenkultur hin: Obwohl die Mehrzahl der Menschen zwangsläufig irgendwo im Mainstream verortet ist, will niemand dazugehören. Jeder will individuell sein, etwas Besonderes, getrieben von der unbewussten Befürchtung, als Mensch nur beachtenswert, ja, wertvoll zu sein, wenn man aus der Masse hervorsticht. Was natürlich blanker Unsinn ist. Zum Durchschnitt zu gehören, ist schließlich nicht per se schlecht. Es ist eine gute Voraussetzung für gesellschaftliche Integration und evolutionär gesehen ein Garant fürs Überleben. Die Extreme sind es, die Schwierigkeiten mit sich bringen, wovon sehr große oder sehr kleine Menschen „ein Lied singen“ können. Narzisstische Züge spielen mitunter eine Rolle: Nicht Wenigen geht es auf YouTube, TikTok usw. hauptsächlich darum, die eigene Person positiv darzustellen.

Individualität ist der neue Mainstream. Gerne demonstriert durch personalisierte T-Shirts, Tassen, Toilettenpapier. Bloß nicht in der „grauen Masse“ versinken. Die eigene Besonderheit kann auf verschiedene Arten gezeigt werden, wichtig ist nur, sie wird von anderen gesehen. Für jede gesellschaftliche Gruppierung, die für sich in Anspruch nimmt, nicht „mainstream“ zu sein, sind es die anderen – und umgekehrt. Wer über kein mehr oder weniger offensichtliches Alleinstellungsmerkmal verfügt, hat schon verloren. Benötigten früher bloß Gewerbetreibende und Künstler einen „Unique Selling Point“, ist er heute unverzichtbar für die gefühlte oder tatsächliche soziale Anerkennung.

Das wäre nicht weiter schlimm und als eine der vielen putzigen Eigenarten der Spezies Home Sapiens hinzunehmen, wenn der ewig hungrige Mainstream sich nicht auch über sensible Bereiche hermachen würde, die mehr Fachwissen und Fingerspitzengefühl erfordern als Mode und Ernährungstrends, nämlich psychiatrische Diagnosen.

Autismus, um sich von der Masse abzuheben?

Seit einigen Jahren existiert ein Trend, der sowohl von Fachleuten als auch von einigen Betroffenen, die auf ihrem Blog oder YouTube-Kanal zum Thema Autismus aufklären, kritisch hinterfragt wird: Immer mehr, vorwiegend junge Menschen vermuten, von Autismus betroffen zu sein. Weil sie eine Reizfilterschwäche haben oder sich unwohl in Menschenmengen fühlen oder sonst ein, zwei Punkte an sich feststellen, die auf Autismus, genauso gut aber auch auf eine ganze Reihe anderer neurologischer und psychologischer Besonderheiten hindeuten können. In den sozialen Netzwerken melden sich immer mehr „Autisten“ zu Wort. Einerseits ist es gut, dass Betroffene sich online austauschen können, zumal viele Autisten die schriftliche Kommunikation vorziehen. Andererseits treten etliche als Autisten auf, bei denen die (Selbst-)Diagnose doch recht fragwürdig erscheint: erfolgreich im Beruf, Familie, Freundeskreis, feiert und verreist gerne … Da gerät man als Betroffener mit höchst gebrochener Biografie, der einen, maximal zwei – oder auch gar keinen – der eben genannten Punkte vorweisen kann, doch sehr ins Grübeln. Offenbar ist das Label „Autismus“ für viele Menschen erstrebenswert, die sich ein bisschen anders fühlen. Ist also sogar eine Behinderung – denn das ist Autismus, auch der hochfunktionale – mittlerweile etwas, das man sich bereitwillig zuschreibt, um nicht zur Masse zu gehören? Allerdings wird der Autismus von den meisten dieser Personen gar nicht als Behinderung, sondern als Neurodiversität gehypt und allein die positiven Aspekte hervorgehoben, was der Identifizierung natürlich dienlich ist.

Warum aber Autismus und nicht Borderline oder Schizophrenie? Die Frage ist leicht zu beantworten: Die mediale Darstellung autistischer Menschen ist überwiegend positiv und befeuert Klischees, z. B. alle Autisten wären hochbegabt und nur ein wenig schrullig. Persönlichkeitsstörungen hingegen haftet nach wie vor der Makel des Kranken, Mangelhaften an. Kein Label, das man sich bereitwillig zulegt, um die eigene Individualität zu unterstreichen.

Enttabuisierung psychischer Erkrankungen

Voraussetzung dafür, dass Autismus zur Mode-Krankheit werden konnte, ist die Enttabuisierung anderer psychiatrischer Diagnosen. Was früher schamhaft verheimlicht oder schlicht geleugnet wurde, darüber sprechen Prominente heute ganz offen vor einem Millionenpublikum: Depressionen und Ängste. Sie werben für Verständnis und machen vielen Betroffenen Mut, offener mit ihrer Erkrankung umzugehen und sich Hilfe zu suchen. In den sozialen Medien schreiben auch viele Nicht-Prominente über die täglichen Kämpfe, die Suche nach geeigneten Therapeuten und Behandlungsmöglichkeiten. Da allein in Deutschland über 5 Millionen Menschen unter Depressionen leiden und etwa 12 Prozent im Laufe ihres Lebens von einer Angststörung betroffen sind, ist das Thema psychische Erkrankungen mainstream-tauglich geworden. Treffender formuliert: Psychische Erkrankungen sind gesellschaftsfähig, man spricht darüber und nicht nur hinter vorgehaltener Hand. Eine positive Entwicklung, welche die Gesellschaft dazu zwingt, sich mit den Folgen von zunehmendem Leistungsdruck und anderen Bedingungen des modernen Lebens auseinanderzusetzen. Menschen sind keine Maschinen. Es wäre schön, wenn diese Erkenntnis auch endlich in der Politik und einigen Wirtschaftszweigen ankäme, denn es fehlen Therapieplätze „an allen Ecken und Enden“ und die Gier nach Profiten fordert zahlreiche Opfer seitens der Arbeitnehmer in Form von immer höheren Krankenständen und Burn-outs.

Ich möchte niemandem seine Selbstwahrnehmung oder seine Diagnose absprechen. Ich weiß, wie schmerzhaft es ist, wenn die eigenen Beschwerden und Diagnosen heruntergespielt oder angezweifelt werden. Aber eine offizielle Diagnose sollte auch die Mindestvoraussetzung sein, um sich anderen gegenüber als Autist zu bezeichnen, da reicht es nicht, im Internet eine Test gemacht zu haben. Wer keinerlei Leidensdruck hat, wird von einer seriösen Diagnosestelle schwerlich als autistisch (an)erkannt werden, auch wenn das eine oder andere Diagnosekriterium zutrifft. Darüber hinaus gibt es viele Überschneidungen zu anderen psychischen Störungen, und selbst die Diagnostiker haben mitunter Schwierigkeiten, Autismus von erworbenen Persönlichkeitsstörungen wie der schizoiden oder ängstlich-vermeidenden sowie Traumafolgen oder sozialen Ängsten abzugrenzen.

Das Schlagwort „Mode- oder Trenddiagnose“ darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Zahl der mit Autismus Diagnostizierten stark gestiegen ist, was schlicht daran liegt, dass Autismus heute auch in Fällen erkannt wird, wo er weniger offensichtlich ist. Pädagogen und Kinderärzte sind heute aufmerksamer und so gelangen auch Kinder in die Diagnostik, bei denen man früher lapidar gesagt hätte, ihr seltsames Verhalten würde sich „auswachsen“. Die frühe Diagnose ist für die meisten Betroffenen ein Segen. So sind sie imstande, ihren Lebensweg unter Berücksichtigung ihrer individuellen autistischen Stärken und Schwächen zu gestalten, während ältere Betroffene sich oft jahrzehntelang an nicht-autistischen Mitmenschen gemessen haben und ihr Scheitern als eigenes Versagen interpretierten, mit katastrophalen Folgen für das Selbstwertgefühl.

Fake-Autisten schaden echten Betroffenen

Warum ist es nun so schlecht, dass draußen eine gewisse Anzahl von „Pseudo-Autisten herumläuft? Könnte einem das als Betroffener nicht egal sein, ja, vielleicht sogar begrüßenswert erscheinen? Immerhin erhält das Thema Autismus so mehr Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit und schafft damit ein vermehrtes Verständnis für die eigenen Schwierigkeiten. Letzteres kann tatsächlich ein positiver Effekt sein. Leider sprechen mehr Faktoren dafür, dass der „Autismus-Hype“ den tatsächlich Betroffenen mehr schadet als nützt.

Lange Wartezeiten bis zur Diagnostik

Da wäre zunächst einmal der enorme Andrang bei den Diagnosestellen. Nur wenige niedergelassene Psychiater kennen sich hinreichend mit Autismus aus. Die Autismus-Ambulanzen und Universitätskliniken sind hoffnungslos überlaufen, Wartelisten von bis zu drei Jahren keine Seltenheit. Bedauerlicherweise gibt es „schwarze Schafe“ unter Ärzten und Psychologen, welche die Diagnosekriterien lasch auslegen, sodass fast jeder, der dort mit dem Eigenverdacht Autismus vorstellig wird, die Praxis mit der erhofften Bestätigung wieder verlässt. An dieser Stelle darf nicht unerwähnt bleiben, dass umgekehrt nicht wenige Fachleute immer noch eine veraltete Auffassung von Autismus besitzen und vor allem die frühkindliche Form im Blick haben. Manche sind der Meinung, hochfunktionale autistische Frauen wären eine zu vernachlässigende Minderheit, was längst widerlegt ist. Diese zu eingeschränkte Auslegung der Diagnosekriterien ist genauso falsch wie die zu nachlässige.

Hilfesuchende werden nicht ernst genommen

Leider werden viele Hilfesuchende aufgrund der Masse derjenigen, die eine Diagnostik wünschen, oft nicht ernst genommen, da manch spezialisierter Arzt mittlerweile gereizt auf das Stichwort „Autismus“ reagiert. Aus seiner Sicht ein Stück weit verständlich, allerdings gilt zu bedenken, dass die meisten, die sich zur Diagnostik einfinden, echten Leidensdruck verspüren. Den gilt es anzuerkennen, ob dieses Leid nun autismus- oder anderweitig bedingt ist. Gerade Menschen mit Problemen im sozialen Umgang fühlen sich durch eine ablehnende Haltung des Diagnostizierenden sowie die langen Wartezeiten stark verunsichert und verzichten womöglich auf die Untersuchung, obwohl gerade sie am meisten davon profitieren könnten.

Kaum autismusspezifische Therapieplätze

Wer die Diagnose nicht bloß aus Gründen der Selbsterfahrung, sondern wegen manifester Probleme gesucht und erhalten hat, stößt an die nächste Schwierigkeit: einen Therapieplatz finden. Therapiestellen sind rar, spezielle für Autismus noch rarer. Die vorhandenen werden zum Teil von Patienten beansprucht, die vergleichsweise leicht betroffen sind, wodurch für die Autisten tiefer im Spektrum noch weniger Hilfemöglichkeiten bleiben. Dabei wäre der ersten Gruppe mit einem nicht spezialisierten Therapieansatz womöglich ebenso gut geholfen: Wichtig für den Erfolg einer Therapie sind schließlich weniger Diagnosen, sondern vielmehr die konkreten Schwierigkeiten und Symptome und dass der Behandler bereit ist, sich auf autistische Besonderheiten einzulassen.

Das öffentliche Bild von Autismus wird verfälscht

In der nicht-betroffenen Bevölkerung kursieren unterschiedliche Auffassungen, was Autismus ist. Die meisten haben mit der Realität wenig gemeinsam. Entweder handelt es sich um Klischees und Extreme (der nonverbale, schaukelnd in der Ecke sitzende Autist), Verwechslungen mit Savants (Rainman lässt grüßen) oder um übertriebene Darstellungen tatsächlicher autistischer Eigenarten (z. B. die Fernsehserie Ella Schön). Durch die mediale Selbstdarstellung vieler selbsternannter Autisten verwässert das Bild zusehends. Wenn jede Empfindlichkeit auf Geräusche oder andere Sinnesreize umgehend als „Beweis“ für Autismus gewertet wird, wenn der Begriff „Behinderung“ durch „Neurodiversität“ ersetzt wird, wenn erfolgreiche Prominente sich mit einem gewissen Stolz selbst das Label Autismus an die Brust heften, dann fragt sich der durchschnittliche Nichtautist zu Recht, was denn am Autismus eigentlich so schlimm sein soll, denn anscheinend kann man dennoch sehr erfolgreich im Leben sein und außerdem ist ist ja jeder „ein bisschen autistisch“.

Wenn aber Autismus nur eine neuronale Besonderheit, keine gravierende frühkindliche Entwicklungsstörung mit erheblichen Einschränkungen im Alltag ist, und darüber hinaus jeder „sein Päckchen zu tragen“ hat, warum fordern Autisten dann Sonderbehandlungen und Rücksichtnahme? Das Verständnis dafür, dass sehr viele der tatsächlich Betroffenen auf Nachteilsausgleiche in Schule und Berufsleben, auf Unterstützung von Angehörigen oder Betreuungsdiensten und auf teils langjährige Therapien angewiesen sind, um einigermaßen zurechtzukommen, geht verloren, wenn verstärkt kaum oder gar nicht Betroffene öffentlich als Autisten auftreten.

Autismus ist eine Beeinträchtigung (und nur selten eine „Superkraft“)

Ganz zu schweigen von den vielen schwer- und schwerstbetroffenen, teils nonverbalen Autisten, die nicht medial auf sich aufmerksam machen können und so gut wie keine Lobby besitzen. Wenn Autismus durch Selbstdisziplin und die richtige Therapie mehr oder weniger zum Verschwinden gebracht werden kann – ist dann am Ende doch die Erziehung schuld? Absolut haltlose Vorwürfe müssen sich Eltern schwer betroffener Autisten sowieso immer wieder anhören, und die alleinige Zurschaustellung von „Autismus-light“, mit dem sich prima leben ließe, trägt gewiss nicht zu mehr Verständnis bei. Ein lesenswerter Artikel zu diesem Thema findet sich auf Ellas Blog. Und auch hochfunktionale Autisten haben größtenteils mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen, die es ihnen unmöglich machen oder zumindest sehr erschweren, ein normales Leben zu führen.

Was tun bei Selbstverdacht auf Autismus?

Wenn du den Verdacht hegst, autistisch zu sein, informiere dich bitte auf seriösen Seiten wie beispielsweise dieser über die diagnostischen Kriterien. Findest du dich darin wieder, kommst aber dennoch im Großen und Ganzen prima im Leben zurecht, so magst du es vielleicht mit der Selbsterkenntnis gut sein lassen, autistische Züge zu haben. Auf die kannst du dann zukünftig mehr Rücksicht nehmen, dazu brauchst du nicht zwingend eine Diagnose.

Verspürst du Leidensdruck, dann lass dich möglichst rasch auf eine Warteliste zur Diagnostik setzen. Während der Wartezeit hast du genügend Zeit zur Selbsterforschung der Ursachen deiner Probleme, indem du dich mit den Kriterien auch der Differentialdiagnosen wie soziale Phobie, ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung, Depressionen, Zwangsstörungen oder der schizoiden Persönlichkeitsstörung auseinandersetzt. Doch Achtung, all diese Erkrankungen können auch als Komorbiditäten bei Autismus auftreten, es gibt nicht immer ein Entweder-oder. Versuche offen in den Diagnoseprozess zu gehen. Eine falsch positive Diagnose hilft dir genauso wenig weiter wie eine falsch negative. Beides ist leider nicht ganz auszuschließen, da es keinen klinischen Marker für Autismus gibt.

Geht es dir akut schlecht, ist es ratsam, dich auch ohne Diagnose auf die Suche nach einem Therapieplatz zu begeben. Eine Überweisung ist nicht erforderlich. Du benötigst lediglich relativ zeitnah einen Konsiliarbericht von deinem Hausarzt oder einem Psychiater, was im Rahmen der probatorischen Sitzungen vom Behandler aber auch erläutert wird. Wichtig ist, dass der Therapeut über eine Kassenzulassung verfügt, damit deine Krankenkasse die Kosten übernimmt.

Und bitte: Wenn du nicht diagnostiziert bist, dann nenn dich auch nicht Autist, du tust Betroffenen damit keinen Gefallen. Sofern du psychische Probleme hast, liegt es in deinem eigenen Interesse, den wahren Ursachen auf den Grund zu gehen, am besten mit professioneller Unterstützung. Anders als Autismus – mit dem man nur lernen kann zu leben – sind viele psychische Erkrankungen gut behandelbar.

Schlussworte

Dass Autismus-Spektrum-Störungen irgendwie „trendy“ sind und sich so viele Menschen davon angesprochen fühlen, bedeutet keineswegs, dass es sich bei dieser Störung um eine Erfindung handelt, wie der Begriff „Modediagnose“ nahelegt. Es mag sein, dass in einigen Fällen die Diagnose zu schnell vergeben wird, doch auf die meisten der mit Autismus Diagnostizierten trifft das nicht zu. Die anerkannten Diagnosestellen setzten die Diagnosekriterien in der Regel nämlich sehr streng um, sodass es höchstwahrscheinlich mehr falsch negative als falsch positive Diagnosen geben dürfte. Und auch wenn es sich bei vielen davon um leichtere Fälle handelt, denen ihr Autismus nicht auf den ersten Blick anzusehen ist, heißt das nicht, dass kein Leidensdruck vorliegt: Gerade die gut Angepassten, Hochfunktionalen zahlen einen hohen Preis, der sich oft erst nach Jahren in Depressionen und autistischem Burn-out äußert.

Persönlich mag ich den Ausdruck „Modediagnose“ überhaupt nicht. Er banalisiert die alltäglichen Einschränkungen, unter denen ich seit meiner Kindheit leide und auch in Zukunft leiden werde. Er legt nahe, es handele sich bei Autismus um eine Pseudodiagnose, was einfach nicht der Wahrheit entspricht. Gerade deshalb war es mir wichtig, einen Artikel über Autismus als Modediagnose zu schreiben. Nur wenn offen damit umgegangen wird, ist eine differenziertere Wahrnehmung des Themas bei Fachleuten, Betroffenen, Angehörigen und am Ende in der breiten Öffentlichkeit möglich. Das wäre höchst wünschenswert und dazu hoffe ich mit meinen hier festgehaltenen Gedanken einen kleinen Beitrag zu leisten.

Foto von Annie Spratt auf Unsplash

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